Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
weiße Porzellan. Ich hatte mir auf die Zunge gebissen.
»Das ist ein vulgärer Ort, Sigrid. Ein Ort für Scharlatane, Schwindler, Taschendiebe und …«
Sie unterbrach mich: »Ja, und? Können wir uns nicht ausnahmsweise einfach nur amüsieren?«
»Ausnahmsweise? Langweilst du dich?«
»Ich sage doch nur, dass ich ins Casino möchte. Und ich gehe nicht allein dorthin.«
Ich nahm ein Handtuch und tat, als würde ich mein Gesicht befeuchten, während ich mir das Blut vom Mund wischte. Ich musste wieder einmal meinen Vater benutzen.
»Mein Vater war ein Spieler. Er hat alles verloren. Ich will es ihm nicht nachtun.«
»Mein Gott! Soll dieser Neureiche mir jetzt auch noch alles kaputtmachen!«
Ich ließ das Handtuch fallen. Wir standen einander Aug in Aug gegenüber. Das war boshaft gesagt, gehässig und unfein, und Sigrid sah es augenblicklich ein.
»Verzeih mir, Bernhard. Ich habe es nicht so gemeint.«
Ich ging an ihr vorbei, in le salon privé , und trank dort ein Glas Cognac. Sie folgte mir. Ich blieb mit dem Rücken zu ihr stehen. Ich trank noch ein Glas. Sie hielt inne, traute sich nicht, näher zu kommen.
»Verzeih mir«, wiederholte sie, »das war hässlich gesagt.«
Ich drehte mich nicht um, hielt mein Glas in beiden Händen.
»Da gibt es nichts zu verzeihen«, sagte ich.
Sigrids Stimme klang zaghaft.
»Ich habe dir verziehen. Kannst du mir jetzt nicht auch …«
Ich unterbrach sie.
»Da gibt es nichts zu verzeihen, weil du vollkommen recht hast, Sigrid. Er war ein Neureicher. Er hat geglaubt, der Krieg brächte gute Zeiten, und hat das bekommen, was er verdient hat. Hohl wie eine Kokosnuss.«
»Rede nicht so, Bernhard. Bitte.«
Ich muss zugeben, in gewisser Weise gefiel mir die Situation. Sie war von Vorteil. Ich hatte die Macht und konnte die Dinge dorthin schieben, wohin ich es wollte. Deshalb genoss ich den Augenblick in aller Stille und trank noch ein Glas, bevor ich großzügig genug war, um mich zu Sigrid umzudrehen.
»Lass uns aufbrechen zum Spiel!«
Sigrid schaute verwundert auf, verwundert, fast ängstlich.
»Du musst nicht, wenn du nicht willst.«
»Nicht wollen? Warum sollte ich nicht wollen? Ich will spielen. Ich will meinen Einsatz machen! Ich bin nicht mein Vater.«
Sigrid kam näher und küsste mich.
»Danke.«
Ich zog den Smoking an, Sigrid legte einiges an Bargeld in ihre Handtasche, dann nahmen wir den Fahrstuhl hinunter zur Rezeption und gingen hinaus auf die Promenade, wo die Dunkelheit bereits eingesetzt hatte. Diese kantigen Augenblicke dauerten also mindestens drei, vielleicht sogar vier Stunden. Die Luft war ein wenig kühl, ein anderer Zug war in ihr, die Jahreszeit wollte wechseln. Der Sommer, der sich bis weit in den Oktober erstrecken konnte, zog den Herbst nach sich. Einer der vielen Chauffeure des Hotels bot uns an, uns zu fahren, aber wir lehnten dankend ab, wir zogen es vor, zu gehen, Arm in Arm, vorbei am Negresco, auf die bunten Lichter zu. Ich hätte auf den Mond zeigen können, der im Osten über den Klippen zum Vorschein kam und sagen: Können wir nicht lieber um ihn spielen? Können wir nicht, wenn wir schon so weit gekommen sind, den Mond zwischen den Fingern des großen Croupiers kreisen lassen, nämlich Gott, den ich bereits bei mehreren Gelegenheiten erwähnt habe, und alle unsere guten und schlechten Sterne auf den wolkenfreien Himmel setzen? Aber natürlich sagte ich es nicht. Wozu hätte das gut sein sollen? Ich war beherrscht, diszipliniert und beispielhaft. Ich wusste, worauf ich zuging, und nicht ein Zug in meinem Gesicht verriet mich. Das Pferd zum Hammer. Der Hammer zum Pferd. Mit anderen Worten: es war mir gleich. Sollten sie mich doch mit einem Hammer erschlagen, gleich hier, auf die Stirn. Ich ging, ohne zu zögern, meinem neuen Hunger entgegen. Ich hatte keine andere Wahl. Es war eine schwere Freiheit, die ich mit mir schleppte. Ich schnaubte nicht einmal und verzog nicht das Gesicht. Doch als wir uns dem Casino näherten, dem schrillen Lärm, der lächerlichen Parade der beati possidentes, der sogenannten upper ten, wie wir, die gern einmal die Dinge von unten betrachten, eher den Abschaum nennen, da blieb Sigrid plötzlich stehen, ließ mich los und zeigte nach vorn.
»Siehst du, wer da ist?«, flüsterte sie.
Ich schaute in die Richtung, in die sie zeigte.
Auf dem roten Läufer vor der goldbeschlagenen Kaschemme stand ein älteres Paar und stritt sich. Es war dasselbe Paar, auf das ich schon früher am Tag gestoßen war. Sie
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