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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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austrank, wenn ich schon einmal dabei war.
    »Ich möchte dir diesen Brief gern laut vorlesen«, sagte ich.
    »Das brauchst du nicht. Der ist für dich. Nimm ihn lieber mit nach Hause und lies ihn da.«
    »Ich möchte ihn aber lieber hier lesen.«
    »Ich kann woandershin gehen. Ich möchte lieber …«
    Ich unterbrach ihn.
    »Vielleicht kannst du ihn mir ja laut vorlesen?«
    »Das möchte ich möglichst nicht tun.«
    »Aber ich bestehe drauf. Ich möchte das mit dir teilen.«
    Schließlich setzte er sich hin. Ich öffnete den Umschlag und zog mehrere Blätter heraus, linierte Seiten, mit Mutters nervöser Handschrift und Flecken von Tinte, Kaffee, Wein, Tabak, Wind, was weiß ich, schließlich hatte er einen langen Weg hinter sich. Natürlich habe ich den Brief schon vor langer Zeit weggeworfen, und ich begann, ihn Notto laut vorzulesen:
    Roturura, August 1929
    Mein lieber, lieber Bernhard
    Ich hätte dir schon früher schreiben sollen, aber es war so viel los. Ich hoffe, du verstehst das. Die Reise war anstrengend und dauerte mehr als zwei Monate. Ich dachte, wir würden nie ankommen. Mehrere Male war ich seekrank, und Signe war mir eine wahre Stütze. Und als wir schließlich die Südspitze von New Zealand sahen, mit ihren steilen, schneebedeckten Bergen und engen Fjorden, da fiel mir auf, dass die Natur hier sehr der in Norwegen ähnelt. Ich war enttäuscht, aber das hat sich inzwischen gelegt. Wir gingen in der kleinen Stadt Bluff an Land, wo für uns die norwegische Flagge wehte und uns der südlichste Konsul der Welt, stell dir das mal vor, empfing, ein Wiig aus Fredrikstad. Er war Segelmacher, Skipper, Fischer und ein Mann für alles Mögliche, und er servierte uns übrigens später am Abend die größten Austern, die ich jemals gesehen habe, und sagte, dass man sie von den Felsen pflücken könnte wie die Preiselbeeren bei uns zu Hause. Von dort fuhren wir mit dem Dampfschiff weiter nach Dunedin, wo ein weiterer Norweger parat stand, Johnson aus Aurskog in Akershus, er war durch künstliche Beine, die er produzierte, sehr reich geworden, außerdem war da der norwegische Pastor, Axelsen, aus Skudenes. Ich glaube, sie hatten ihre Hintergedanken bei all der Aufmerksamkeit, die sie uns zuteil werden ließen, denn keiner von ihnen war verheiratet, und sie sahen zwei Damen wohl als ein Geschenk des Himmels an. Nun, wie dem auch sei. Lange hatte ich gedacht, dass wir uns hier keine Sorgen um unseren Ruf machen müssten. Wir stellten uns als Witwe und Gouvernante vor! Doch selbst auf der anderen Seite vom Globus weiß immer jemand schon alles. (Ab hier sind einige Sätze und Geständnisse ausgelassen worden, die für die Öffentlichkeit nicht von Interesse sind.) Von der Hafenstadt Lyttelton nahmen wir die Eisenbahn nach Christchurch, unserem Bestimmungsort, zum Schluss ging die Fahrt durch einen langen Tunnel, und dabei ging es Signe sehr schlecht. Ich glaube, sie leidet an etwas, das man Klaustrophobie nennt. Nun war ich diejenige, die eine Hilfe sein konnte. Ich … ( gestrichen) Doch als wir ankamen, wurden wir nicht so freundlich empfangen. Signes Familie väterlicherseits ist bereits 1832 ausgewandert, denn im Juni dieses Jahres fuhr die Bark Høvding , also Häuptling, von Kristiania ab, mit 305 Passagieren an Bord, und die Reise dauerte drei Monate und kostete 8 Pfund. Sie waren Goldgräber, Walfänger und Abenteurer, doch jetzt sind ihre Nachkommen Abstinenzler geworden, religiös und mit anderen Worten ziemlich widerlich. Sie wussten, wo das Land liegt, wie sie immer sagten. Wir hielten vier lange, anstrengende Jahre in Christchurch aus. Das war mehr als genug für uns beide. Besonders Signe litt unter diesen kalten Schultern, die uns gezeigt wurden, besonders meinetwegen, und deshalb nahm sie es doppelt so schwer. Dass Menschen so engstirnig sein können! Wir haben sie doch nicht gestört. Und wenn sie unbedingt in den Himmel wollten, reichte es dann nicht, wenn sie ihren eigenen Pfad rein hielten? Wir fuhren also nach vier Jahren weiter, und ich möchte dich nicht mit all den Widerwärtigkeiten behelligen, aber die Bäume möchte ich trotzdem erwähnen. Hier wachsen alle möglichen Arten, quer durcheinander, denn die Menschen, die herkamen, haben immer Samen aus ihrer Heimat mitgebracht, die sie hier ausgesät haben, um sich wieder heimisch zu fühlen. Ist das nicht eine schöne Idee? In einem Augenblick siehst du Regenwald und Palmen, und im nächsten stehst du bei einer Fichte oder Tanne, genau solche,

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