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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Lampe an: überall Flaschen, halbvolle, leere, zerbrochene, umgekippte, ein Schweinestall. Nie hatte ich mehr Lust gehabt zu trinken, doch ich traute mich nicht. Schließlich stand ich im Bad, vor dem Spiegel, in dem grellen Licht der nackten Glühbirne, und das war nicht mein Gesicht, was ich da sah. Mir fielen die Worte ein: bis die Reste des Wracks vom Tod geschluckt werden. Und in dem Moment sah ich mein verunstaltetes Gesicht, eine bleiche, fleckige Maske, die über den Schädel gezogen worden war, die banalste Verkleidung überhaupt beim Karneval des Rausches, es war vorbei. Der Zwang zu trinken war nicht mehr da. Denn ein anderer Zwang, stärker und heftiger, war aufgetaucht: Ich schaute mich nicht mehr im Spiegel an. Bis zum heutigen Tag habe ich mich nicht mehr im Spiegel gesehen. Wenn ich mir ausnahmsweise einmal die Haare schneiden lasse, bitte ich den Friseur, den Stuhl zu drehen. Muss ich Kleidung kaufen, was ich noch seltener tue, als mir die Haare schneiden zu lassen, dann probiere ich sie nie an, da ich sonst Gefahr laufen könnte, dass mich der Verkäufer vor einen Spiegel schiebt. Wenn sie nicht passt, ist es auch egal. Dann gebe ich sie am ersten Sonntag im Advent der Heilsarmee, auf dem Solli plass. Das alles erfordert seinen Mann, denn die Welt ist nicht nur voll mit Möbeln und Lichtschaltern, Barbieren und Verkäufern, sondern auch voller Spiegel, ja, Spiegel sind wohl das, was es am meisten auf der Welt gibt, alles glänzt und kann, ohne dass du darauf vorbereitet bist, dein Ebenbild in grotesken Formen auf dich zurückwerfen und dir so dein wahres Gesicht zeigen, Radkappen, Reklameschilder, Brillengläser, Schmuck, um nur einiges zu nennen. Und für viele, vielleicht für die meisten, ist der Spiegel ihr liebster Besitz, und sie möchten ihn dir gern entgegenhalten. Ich bin stets in Gefahr. Selbst Fenster meide ich sorgfältig. Ich weiß also nicht mehr, wie ich aussehe. Das Letzte, was ich von meinem Gesicht noch erinnere, das ist eine Träne, die mir aus dem linken Auge läuft, an den Bartstoppeln hängen bleibt und dort eintrocknet.
    »Danke«, flüsterte ich.
    »Danke! Benimm dich wie ein Mann, Junge!«
    »Wie mein Vater?«
    Ich spürte den Stock im Nacken.
    »Tust du dir jetzt auch noch selbst leid? Dann ist deine Misere komplett. Dann kannst du dich gleich selbst unter den Teppich kehren.«
    »Entschuldigung.«
    »Mach dich nicht kleiner, als du bist. Du bist schon klein genug. Und kehre mir nicht den Rücken zu, wenn du mit mir redest!«
    Ich drehte mich langsam zu Doktor Lund um, der mir einen Schlag mit dem Stock versetzte. Den ich verdient hatte. Er hätte mich gern totschlagen können. Was wollte er eigentlich von mir?
    »Entschuldigung«, wiederholte ich.
    »Ich habe gehört, dass du das gesagt hast. Und ich weiß besser als jeder andere, was du durchgemacht hast. Aber benutze niemals den Selbstmord deines Vaters als Entschuldigung dafür, dass du zugrunde gehst.«
    »Dann ist es vielleicht besser, wenn ich meine Mutter benutze. Sie ist dafür gut zu gebrauchen.«
    Doktor Lund betrachtete mich sentimentales Wrack.
    »Medicina interna una et indivisibles«, sagte er. »Erinnerst du dich, was das bedeutet, oder hat dich dein Gedächtnis auch schon im Stich gelassen?«
    »Ein Arzt verfügt meistens über keine anderen Hilfsmittel als seine Sinne, seine Hände und sein Judicium.«
    »Dann verlange ich, dass du Hilfsmittel Nummer zwei benutzt, nämlich die Hände, zuerst, um die Wohnung aufzuräumen und dann um dich selbst aufzuräumen. Und dann werden wir sehen, wozu du deine Sinne und dein Judicium benutzen kannst.«
    Ich war zu müde, um Doktor Lund noch einmal zu widersprechen. Ich tat, was er verlangte. Unter seinem kritischen Blick sammelte ich die leeren Flaschen zusammen, leerte die halbvollen und legte sie in eine Kiste, genauer gesagt in zwei, so viele waren es nämlich, und nicht ein einziges Mal kommentierte Doktor Lund meine Tätigkeit oder fragte, woher diese kriminellen Flaschen wohl stammten, was er natürlich nur zu gut wusste, nämlich aus Kisten, die Schmugglerboote im Oslofjord versenkt hatten, an Bojen befestigt, so dass die Schwarzmarkthändler und Hehler sie im Dunkel finden und weiter an Reich und Arm verkaufen konnten. Er achtete nur darauf, dass alles ordentlich vor sich ging und dass die Flaschen zum Schluss nicht mehr zu sehen waren. Dann putzte ich Boden und Wände, warf alte Essensreste weg, wechselte das Bettzeug, duschte, rasierte mich, mit dem Rücken

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