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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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zum Spiegel, schnitt mich dabei natürlich, fand ein Pflaster, kämmte die Haare, trank vier Schluck Vademecum, schlug einen Purzelbaum und traf den Rand der Badewanne, noch mehr Pflaster, zog meine einzigen sauberen Kleidungsstücke an und stand schließlich vor Doktor Lund, so gut zusammengepflastert, wie es ging, und das war nie gut genug.
    »Ich war bei deiner Geburt dabei«, sagte er.
    »Daran kann ich mich leider nicht mehr erinnern.«
    Doktor Lund überhörte meine alberne Parade.
    »Deshalb fühle ich mich verantwortlich für dich, so wie es nun einmal gekommen ist. Benimm dich wie ein Mann, Junge!«
    Ich wurde den Vater nie los.
    Ich sagte:
    »Ich übernehme voll und ganz die Verantwortung für meine Handlungen und werde die Fakultät verlassen und nicht nur das, ich werde die Universität aus freiem Willen verlassen.«
    Doktor Lund schaute mich lange an.
    »Idiot.«
    Ich senkte den Kopf, ballte die Fäuste in den Taschen, die Zähne knirschten, was hätte ich sonst sagen sollen:
    »Ich weiß. Ich bin ein Idiot.«
    »Dann hast du jedenfalls noch deinen Verstand bewahrt. Aber weißt du, welcher Tag heute ist, du Idiot?«
    Ich lauschte, hörte aber nicht mehr den Unterschied zwischen den Tagen. Früher konnte ich das, als die Haushaltshilfen und Kindermädchen meine Uhr und mein Kalender waren. Wo waren sie jetzt? Warum passten sie nicht auf mich auf?
    »Montag.«
    »Es ist Sonntag.«
    »Aha. Na, das war ja ziemlich nahe dran.«
    Doktor Lund fand es an der Zeit, den Jargon der Studenten zu benutzen, um mich noch weiter zu verhöhnen und zu erniedrigen.
    »Es ist eine Sache, sich ab und zu einen hinter die Binde zu kippen, aber die ganze Zeit sternhagelvoll zu sein, das geht nicht. Kapiert?«
    Ich nickte.
    »Und ich möchte dir noch eines sagen, Bernhard Hval. Und ich möchte, dass du mir genau zuhörst! Ganz einfach: memento mori.«
    Ich sollte den Gnadenstoß erhalten.
    Er musste ja begriffen haben, dass ich geschmuggelten Schnaps gekauft hatte. Wie hätte ich sonst elf Monate lang sternhagelvoll sein können?
    Es gibt eine chinesische Art und Weise, Selbstmord zu begehen, und zwar ganz einfach, indem man lange genug den Atem anhält. Das hätte ich mit Glanz bestanden.
    Doktor Lund trat einen Schritt näher und legte mir seinen Stock auf die Schulter.
    Schlag nur zu! Das ist am besten! Etwas anderes habe ich nicht verdient!
    »Meine Frau und ich, wir würden dich gern zum Essen einladen«, sagte er.
    Ich holte Luft, schluckte und schloss die Augen.
    »Zum Essen?«
    »Ja, kennst du das Wort? Essen. Mittag, gern drei Gerichte, die auf einem Teller serviert werden, und der wird zu diesem Anlass auf einer weißen Tischdecke angerichtet. Wir benutzen auch ein Besteck dabei. Und du solltest möglichst umgehend antworten, denn meine Frau isst sonntags gern um zwei Uhr.«
    Ich öffnete erneut die Augen, ließ meinen chinesischen Atem und meine norwegischen Tränen frei.
    »Ja.«
    Und so wurde Doktor Lund, mein Mentor, zu meinem zweiten Vater und Alma, seine ergebene, schöne und unglückliche Ehefrau, es gibt gar nicht genug preisende Worte, um sie zu beschreiben, meine zweite Mutter. Seitdem aß ich jeden Sonntag bei ihnen, mit Ausnahme einzelner Ferien, Influenza oder Umständen, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte, aus Rücksicht auf uns alle. Sogar den Heiligabend feierte ich dort, mit allem, was dazugehört. Wir überreichten einander bescheidene Geschenke, Handschuhe für Alma, ein Füller für mich, Pfeifenreiniger für Doktor Lund, wir packten diese Gaben mit einer Mischung aus Scham und Freude aus. Einmal schenkte ich ihm einen neuen Stock, gekauft bei Ferner Jacobsen. Er weigerte sich, ihn entgegenzunehmen. Das war zu viel des Guten, und ich musste ihn umtauschen, in vier weiße Hemden und zwei Paar Schottenstrümpfe. Von meiner ersten Mutter, die kopfüber auf der Erde stand, kamen nie Geschenke. Aber mein toter Vater besuchte mich ab und zu, wenn er Zeit hatte.
    »Ja, gern«, wiederholte ich.
    »Hast du Hunger?«
    »Nein.«
    »Meine Frau wartet auf uns.«
    Wir gingen hinaus.
    Es war also ein Sonntag im April 1921, genauer kann ich es nicht sagen. Trotz der schlechten Zeiten, der Brandung des Kriegs und des Optimismus, die den Kontinent überrollten und die sonderbarsten Formen annahmen, fiel mir auf, dass es zu dieser Jahreszeit keine schönere Stadt als Kristiania gibt, wie die Stadt damals hieß. Ich, das Wrack, der ausgewrungene Putzlappen, der Donner, der Lärm und das gierige Füllhorn,

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