Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
Vom Netzwerk:
hatte in diesem Monat Arbeit im Bergwerk angenommen.
    Endlich war der Abend gekommen.
    Es war dunkel genug, um Geheimnisse zu bewahren, und hell genug, um einander in die Augen zu schauen.
    Der Fluss strömte ruhig dahin, und nach einer Weile hatte Notto das Gefühl, der Strom hätte sich gedreht und würde in die andere Richtung fließen, bergauf, wie eine Wasserleiter hinauf in den Himmel.
    Das war das Zeichen.
    Denn wir suchen immer nach Zeichen, und nicht nur das, was wir schaffen, setzt Zeichen, wir dichten die Dinge um und lassen alles mit entschlossener Stimme zu uns sprechen, ja, die Welt ist eine Ansammlung von Zeichen, unsichtbar für das bloße Auge, aber nicht für unsere Augen. Wir sind sensibel. Unsere Sinne sind geschärft. Nur kein Neid, denn das ist schmerzhaft. Aber wir beklagen uns nicht. Dazu ist unser Unglück zu groß. Wir sind ein hart geprüftes Volk. Nicht, dass Sie mich missverstehen, wir haben auch unsere glücklichen Momente, sicher, es sind nicht viele, denn in unserem Leben ist nur wenig Platz, aber vielleicht sind sie jeder für sich stärker als das landläufige Glück, und auf diese Art und Weise werden wir für das Verlorene entschädigt. Wir messen unser Glück nicht in der Breite, sondern in der Tiefe. Wir selbst sind Zeichen, und wir deuten einander.
    Notto hatte also das Zeichen erkannt, die Wasserleiter mit den Sprossen aus kleinen, scharfen Wellen, und er nahm all seinen Mut zusammen:
    »Wir gehen fort«, flüsterte er.
    Gro lehnte sich vor.
    »Warum?«
    Es war nicht geplant, dass sie so etwas fragte. Notto blieb die Antwort schuldig.
    »Hast du einen besseren Vorschlag?«, fragte er.
    Gro lächelte und legte ihre Wange an seine Schulter.
    »Und wohin?«
    »Wohin?«
    »Ja, wohin sollen wir fortgehen? Du musst doch wohl wissen, wohin wir gehen sollen?«
    Doch in dem Moment hatte er alle Namen vergessen, die er auswendig gelernt hatte, und alles schien vergeblich zu sein.
    »Wohin würdest du denn gern gehen?«
    Gro tanzte lachend am Ufer entlang.
    »Du bist derjenige, der das bestimmt.«
    Und Notto versuchte auf Teufel komm raus sich an die Namen aus den Geographiestunden zu erinnern, Träume und Globen, aber in seinem Kopf stand alles still.
    »Wohin auch immer«, sagte er schließlich.
    Das war alles andere als zufriedenstellend für Gro, und sie zog sich zurück.
    »Wohin auch immer? Das ist kein Ort, um fortzugehen.«
    Dann fiel Notto doch noch ein Name ein.
    »Klondyke!«, fast rief er ihn.
    Und schnell schlug er sich die Hand vor den Mund und schaute sich um. Niemand war zu sehen. Sie waren allein. Notto und Gro und der Fluss.
    »Klondyke«, sagte er, so leise er konnte.
    Gro kam wieder näher.
    »Klondyke? Wo ist das?«
    Notto holte tief Luft und schloss die Augen.
    »Das ist weit entfernt, aber es ist es wert, liebe Gro. Dort sind die Pflastersteine aus Gold, alle sind satt, und wenn es regnet, regnet es Milch.«
    Küsste sie ihn da?
    Er konnte nichts spüren. Er ließ die Augen geschlossen, sicherheitshalber, und fuhr fort:
    »Und in Klondyke muss niemand arbeiten, und wenn man will, kann man den ganzen Tag nur gehen.«
    Er hörte etwas und öffnete die Augen.
    Gro war aufgestanden und stand über ihn gebeugt.
    Er erhob sich auch und war größer als sie.
    »Ich muss darüber schlafen«, sagte sie.
    »Darüber schlafen?«
    »Ja, bevor ich mich entscheide.«
    Notto nickte. Damit konnte er leben. Einen so weitreichenden Entschluss musste man gewissenhaft überdenken, man konnte ihn nicht leichtfertig fällen. Es zeigte sich, dass Gro aus dem rechten Stoff gemacht war.
    Er liebte sie noch mehr und blieb in all seinem Unternehmungsgeist und seinen Erklärungen sachlich statt zu feurig und aufdringlich.
    »Dann treffen wir uns morgen früh wieder, nachdem du darüber geschlafen hast und dich ein für alle Mal entschieden hast«, sagte er.
    Jetzt war es an Gro zu nicken, mit einem Lächeln, das zwei kleine Grübchen in ihre Wangen bohrte.
    Und plötzlich strich sie Notto durch sein schütteres Haar, lehnte ihre Lippen an seine und schob schnell die Zunge dazwischen, ließ sie sogar noch eine Zeitlang dort drinnen verweilen. Es war nicht zu glauben. Notto schloss erneut die Augen. Er hatte Angst, keine Luft zu bekommen. Doch was sie mit ihm tat, das war so angenehm, einschläfernd und aufregend, dass Atmen in dem Zusammenhang nur als Bagatelle anzusehen war. Als er bereit war, die Augen wieder zu öffnen und es nicht mehr aushielt, war Gro fort. Dennoch schien es, als wäre

Weitere Kostenlose Bücher