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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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war bereits fast zehn. Aus reiner Verwirrung schlug sie ihn mit der flachen Hand, verbarg dann aber genauso schnell die Hände hinter dem Rücken und stand auf.
    »Das wollte ich nicht«, flüsterte sie. »Verzeih mir.«
    Notto lag ganz still auf dem Boden.
    »Es ist nicht deine Schuld«, sagte er.
    Die Mutter beugte sich zu ihm hinab, unsicher:
    »Wessen Schuld ist es dann, Notto?«
    Der Himmel kam zurück, und die lange Schlange von Wolken hatte umgedreht und zog jetzt in die andere Richtung, um sich tief hinten im Tal zu einem Unwetter zu sammeln. Der Wind ließ die Blätter an den Birkenbäumen erzittern und gab einen unverkennbaren Laut von sich, von dem alle wissen, dass er Herbst bedeutet.
    »Wessen Schuld ist es dann?«, wiederholte die Mutter.
    »Meine«, sagte Notto.
    Am selben Abend schrieb sie einen Brief an den Pfarrer und bat, nein, flehte, um einen Schulplatz für Notto. Und bereits Anfang September konnte er in der ersten Klasse unten in Evje anfangen. Dreimal die Woche ging er dorthin, sechs Kilometer pro Weg. Er wurde unterrichtet in norwegischer Sprache, mündlich und schriftlich, in Christentum, einfachem Rechnen und Geographie. Notto war alles andere als ein Versager. Besonders Geographie interessierte ihn, mit ihren fremden Städten, Entfernungen und Grenzen. Doch das Fach, das ihm am besten gefiel, das war das Gehen. Nur schade, dass es nicht auf dem Stundenplan stand. Denn darin war er unschlagbar. Deshalb ging er auch immer allein, denn niemand konnte mit ihm Schritt halten. Es waren in erster Linie die Wege hin und zurück, sechs Kilometer jeweils, zwölf zusammen, dreimal die Woche, das machte 36 Kilometer, verdammt, auf die er sich freute. Er hätte es am liebsten gesehen, wenn jeden Tag Schule gewesen wäre, sonntags auch, und gern noch Weihnachten und den ganzen Sommer hindurch. Und auf dem Heimweg machte er ab und zu einen Umweg zu der achteckigen Kirche, ging genau achtmal um sie herum, denn so war es am besten. Anschließend bekam er von der Pfarrersfrau Milch und einen Klaps auf die Schulter, bevor er weiterging, und wenn sie nicht zu Hause war, sondern mit dem Pfarrer irgendwo in der Gemeinde, dann konnte er einfach mit den Katzen teilen oder sich einen Schluck Sahne aus der Küche stibitzen. Nicht selten kam er mit einem weißen Kaiser-Wilhelm-Bart anmarschiert. Und in den Pausen ging er auch, auf die Anhöhe hinter der Schule und wieder hinunter, und er kam nie zu spät zu einer Stunde.
    Eines Tages, als sie Religion hatten und der Studienrat ihnen von Hiobs Strapazen berichtete, wandte er sich plötzlich an Notto, der träumend am Fenster saß.
    »Warum gehst du so viel, Notto?«
    Notto blieb ihm eine Antwort schuldig, nicht weil er bockig war, sondern ganz einfach, weil er die Frage nicht verstand. Warum nicht?, hätte er ebenso gut erwidern können. Er hätte auch sagen können, dass er ging, um den Tod auf Abstand zu halten, aber er hatte noch keine Vorstellung vom Tod. Er hätte anschließend hinzufügen können, dass seine unteren Extremitäten wie geschaffen fürs Gehen waren, vom Hüftgelenk abwärts bis zum Fuß, diesem wunderbaren Gliedmaß mit seiner gewölbten Unterfläche, genauer als Sohle bezeichnet, bei der die Hacke und der vorderste Teil die Ruhepunkte des Glieds auf dem Boden bilden, sowohl bei Stillstand als auch beim Gehen. Doch auch das erwähnte Notto nicht, ebenso wenig wie er vom Tod wusste, wusste er von der Anatomie. Der Studienrat trat näher und gab leider keine Ruhe.
    »Willst du irgendwohin?«
    Als dieser verständnisvolle und empfindsame Mann, der sogar in Kopenhagen gewesen und Ibsens Wildente gesehen hatte, nicht länger mit einer Antwort von Notto rechnen konnte, wandte er sich stattdessen an die Klasse, und dort saß das Gelächter locker.
    »Da Notto mir auf meine einfache Frage keine Antwort geben kann, könnt ihr es vielleicht?«
    Die Jungen sahen einander an, und schließlich reckte ein echter Bauernsohn den Arm in die Luft und durfte antworten.
    »Weil Notto hier in der Welt vorankommen will«, sagte er.
    Ein anderer Schelm, der Sohn des Dorfpolizisten, Jens hieß er wohl, vollendete die Antwort, als wäre das bereits im Vorhinein so abgesprochen gewesen.
    »… und wieder zurück!«
    In dem Moment fing die Klasse an zu lachen. Endlich konnten sie es loslassen, das Lachen, das wir nur zu gut kennen. Sollen sie doch lachen! Sie hingen über ihren Pulten, Das war gekonnt. Notto wollte zuerst in die weite Welt und dann wieder zurück! Nur

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