Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
Vom Netzwerk:
einzigen Tages hatte er die Kindheit hinter sich gelassen und war ein Jugendlicher geworden, ein Mann, und damit widersprach er den Regeln von Doktor Lund.
    »Nein«, sagte er. »Du bist es, dem ich Schmerz bereiten will.«
    Da stieß der Vater die Brechstange in den Boden, genauso verblüfft wie Notto, hob die Hand zum Schlag, aber sie blieb hängen, als hielten sie die Mondstrahlen fest, und der Schlag fiel nicht. Es war ein Wunder. Der Vater beugte sich stattdessen vor, öffnete die Faust, Finger für Finger, schwarz von der Kohle und dem Ruß alle fünf, und zeigte schließlich auf Nottos spitzes Kinn. Waren das tatsächlich ein paar Bartstoppeln, die er da sah, dünn wie Flaum waren sie, aber dennoch. War dieser schlaksige Junge dabei, sich zurechtzuwachsen? Der Vater richtete sich auf und schaute Notto in die Augen, und Notto ahnte noch etwas anderes in Vaters Blick, als er bisher gewohnt war.
    Der Vater war kein Mann großer Reden, er kämpfte mit den Worten.
    »Bis du konfirmiert bist, tust du das, was ich sage«, erklärte er.
    »Ja.«
    »Hinterher kannst du dann tun und lassen, was du willst.«
    »Ja, Vater.«
    »Aber bis dahin tust du das!«
    Notto fürchtete, etwas Falsches zu sagen, und flüsterte:
    »Was denn?«
    »Das, was ich dir sage«, sagte der Vater.
    Darauf gaben sie sich die Hand, der Vater und der Sohn, und ich stelle mir gerne vor, ich sentimentaler, abgestumpfter Trottel, dass die Mutter in der Tür stand und die beiden betrachtete, während sie im Stillen die Diagnose des alten Arztes memorierte: eine Klasse für sich.
    Noch ein Winter verging, und Notto dachte nicht einen einzigen Tag an Gro.
    Dann fand endlich die Konfirmation in der achteckigen Kirche statt, in der er seinerzeit mit einer vom Wasser gekämmten Locke mitten auf der Fontanelle getauft worden war und wo er auch genau 31 Jahre später beigesetzt werden sollte, im Beisein einer Menschenmenge, die eines Meisters würdig war. Aber jetzt war es nicht der Haarbüschel auf Nottos Schädel, der einen gewissen Frohsinn weckte, es waren diese Körnchen am Kinn, der Spitzbart, den er hatte wachsen lassen, wie er wollte. Neun Jungen und drei Mädchen sollten an diesem Sonntag im Mai 1900 das Sakrament der Taufe bestätigen, an diesem heißen, stillstehenden Vormittag. Der Schweiß lief über die weißen Stirnplatten der Väter und tropfte von den sonnengebräunten Wangen, während die Mütter sich unter ihren schweren Trachten kratzten. Konnte Gott nicht einen winzigen Windzug den Mittelgang entlangwehen lassen? Nein, im Gegenteil, Gott hatte diese achteckige Kirche versiegelt, um alle Aufmerksamkeit auf sein eigenes Bild und den Heiligen Geist zu lenken, egozentrisch, wie er war. Notto stand nicht ganz vorn und nicht ganz hinten. Er stand ungefähr in der Mitte, dort, wo wir uns am wohlsten fühlen. Er antwortete richtig und machte niemandem eine Schande, als der Pfarrer fragte:
    »Was wollte Gott mit Hiob?«
    »Ihn auf die Probe stellen.«
    Der Pfarrer nickte, zufrieden, und wollte mehr hören:
    »Und warum wollte Gott Hiob auf die Probe stellen?«
    »Um seinen Glauben zu testen.«
    Der Pfarrer blieb vor Notto stehen, nachdenklich, denn die Antworten des Jungen kamen so schnell, entschlossen und exemplarisch, dass er sich diese Chance nicht entgehen lassen konnte, nämlich die Chance, der Gemeinde zu zeigen, welch Wissen und welche Überzeugung er in diesen mageren Boden gesät hatte, den seine Konfirmanden ausmachten.
    »Und Gott nahm ihm alles! Findest du das gerecht, das frage ich dich, Notto Senum?«
    Notto dachte nach.
    »Nein«, antwortete er.
    Das war nicht ganz das, was der Pfarrer erwartet hatte, deshalb wurde er unruhig.
    »Nein?«
    Notto schaute zu Boden, zupfte ein wenig an seinem Bart, und in der Kirche war es vollkommen still, nur ein Tropfen, der von einem Gesicht oder einer Hand herabfiel, hallte wider, als er auf die Bodenplanken traf und zwischen den Bankreihen entlangrollte.
    Oratio recta!
    »Ich glaube eher, es war Hiob, der Gott auf die Probe stellte«, sagte Notto schließlich.
    Der Pfarrer, aus allen Wolken gefallen und wütend, trat schnell einen Schritt näher an diesen unberechenbaren, verschrobenen Konfirmanden aus Senum und hätte ihn am liebsten bei seiner Frisur am Kinn gepackt und ihn dann gründlich ziseliert.
    Errata!
    »Stellst du Gottes Absichten in Zweifel? Was? Stellst du dich über die Heilige Schrift selbst? Du Fipps, du kleiner Spitzbart!«
    Notto schaute zu den Plätzen, an denen seine Eltern

Weitere Kostenlose Bücher