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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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so vorbildlich beschrieben hat, dann verhält es sich so: Das Alter ist die Zeit, die verstreicht von dem Moment an, an dem wir geboren werden. Und das Kindesalter erstreckt sich bei männlichen Personen über sechzehn Jahre, bei Mädchen über vierzehn. Ein Paradox! Eine Unmöglichkeit! War Gro damit etwa älter als er, während sie gleichzeitig doch viel jünger war?
    Oh, du Maßstab des Todes!
    Notto spuckte auf seine Holzschuhe, die zu nichts anderem zu gebrauchen waren, als in ihnen still zu stehen, zog sie aus und warf sie so weit von sich, dass er nicht mehr hören konnte, wo sie landeten. Dann zerfetzte er die Blumen und warf sie in den Waschzuber.
    Notto von Senum war verrückt worden.
    Und dann trottete er barfuß nach Hause. Doch mitten im Fluss blieb er stehen und dachte, dass es doch eigentlich sowieso egal war. Von allen Ideen war das Dasein die zerbrechlichste. Und von allen Schöpfungswesen waren die Frauen die schlimmsten, sie kamen gleich nach der Kriebelmücke. Oho! Fast wollte der Strom ihn mit sich reißen, dieser barmherzige Strom, ihn unwiederbringlich untertauchen und seine gedemütigten Glieder bis an die Küste führen, und dort sollte Gro, in den Armen eines anderen, sehen, wie er zerschunden vorbeitrieb, und er würde jede einzelne Nacht durch ihre Träume wandern, und sie würde niemals Ruhe finden, er würde sie heimsuchen und ihr Glück in Stücke reißen, genau wie er es mit dem Blumenstrauß gemacht hatte. Das hatte sie nun davon. Aber gleichzeitig achtete er darauf, dass der Zettel mit dem Gedicht, das er für Gro, dieses leichte Mädchen, dieses Luder, geschrieben hatte, über dem Wasser blieb, damit die Schrift nicht nass würde und somit zerfließen könnte. Und könnte er nicht ebenso gut dieses Gedicht einer anderen geben, die es mehr verdiente?
    Da haben wir Notto im Fluss: ein gehärteter, aber kein verhärteter Jüngling.
    Lass allen Stolz fahren und erhebe dich!
    Notto stand auf und ging das letzte Stück mit geradem Rücken.
    Die Mutter stand am Schleifstein, es war eine Schere, die geschärft werden musste, sie schaute verwundert ihrem Sohn nach, wollte er sie nicht einmal grüßen oder fragen, ob sie Hilfe bräuchte?
    »Notto!«, rief sie.
    Doch Notto hörte sie nicht. Wenn Gro nicht mit ihm weggehen wollte, dann konnte er es auch alleine tun. So einfach war das. Es war sowieso zu eng hier. Eine Gestalt von Nottos Größe brauchte mehr Platz, als es hier gab. Er brauchte Abstand und Ausblick, keine engen Täler und Türrahmen, an denen er sich den Kopf stieß. Er brauchte Wege und keine Zäune. Außerdem hatte er mehr als genug zu erledigen. Und als Allererstes musste er das wieder aufholen, was er in der Zeit, als Gro, die Treulose, ihn verhext hatte, nicht gegangen war, oh, sie hatte ihm viele Kilometer seines Lebens gestohlen. Und jetzt spürte er eine doppelte Unruhe, im Körper und in der Seele, von Kopf bis Fuß, und er wusste, dass er diese Unruhe nur durch Gehen loswerden konnte, koste es, was es wolle.
    Es wurde Abend.
    Die Mutter behielt ihren Sohn im Blick.
    »Was machst du?«, fragte sie.
    »Nichts.«
    Notto saß mit dem Rücken zu ihr, und in dieser Nacht sollte es geschehen. Notto wollte fort. Er wollte auf jeden Fall nach Kristiansand, wo ihn ein Schiff weiter bis nach Klondyke mitnehmen könnte. Notto war bereits auf dem Weg. Und das erzählen die Quellen, zu denen ich Zugang hatte, darüber, was er mitnahm: ein Tuch, in das er eine Axt einwickelte, einen Papierhelm, eine Erbsenschleuder, einen zahnlosen Kamm, ein kleines Stück Seife, einen Klecks Butter, einen Knust Brot und ein Gedicht. Das musste reichen.
    Aber Notto war ein unerfahrener Ausbrecher. Er war nicht weiter als bis zum Schleifstein und dem Birkenhain gekommen, in dem schöne Ruten wuchsen, als eine Gestalt vor ihm stand und ihm den Weg versperrte. Es war der Vater, der aus den Gruben nach Hause kam, schwarz im Gesicht, mit weißen Augen und der Brechstange über der Schulter.
    »Notto?«
    Das konnte er nicht leugnen.
    »Ja, Vater.«
    »Wohin willst du?«
    »Wohin auch immer«, antwortete er.
    Da kam sein Vater zur Besinnung, zog den Sohn hinaus ins Mondlicht und konnte die sonderbare Last erkennen, die er auf dem Rücken trug. Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Aber es bestand kein Zweifel. Der Junge wollte weglaufen.
    »Hast du dir etwa gedacht, deiner Mutter so einen Kummer und Schmerz zu bereiten?«, fragte der Vater.
    Notto war nicht wiederzuerkennen. Im Laufe eines

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