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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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ziehen. Es ist, wie es ist. Alles andere hat keinen Sinn. Die Orchidee, sagte ich still zu mir. Die Orchidee! Sagte ich es auch laut? Sei still! Nein. Es wurde acht Uhr. Die Türen wurden geschlossen. Das Programm war umfangreich. Zuerst Gesang des Akademischen Chors, das Königslied, leider alle Strophen, damit ich richtig gut Zeit hatte, ins Grübeln zu kommen und Zweifel aufzubauen. Dann sprach der Dekan der Fakultät zu den werdenden Ärzten, wahrscheinlich hielt er jedes Jahr die gleiche Rede. Jedenfalls stahl er mir keinen meiner Punkte. Ich fühlte noch einmal in der Innentasche nach, alles an Ort und Stelle, und Alfreds Worte dienten der Linderung: Halte dich ans Manuskript! Schließlich war ich an der Reihe. Bernhard Hval, im Namen seines Jahrgangs. Unnötig, mehr zu sagen. Bereits gesagt. Der Dekan selbst stellte mich vor. Ich ging die drei Stufen zum Podium hinauf, hörte den Applaus, nahm den Platz am Rednerpult ein, mit dem Rücken zu Munchs Sonne, die mir im Nacken brannte, und das Gesicht dem erwartungsvollen Publikum zugewandt, das mich entsprechend wieder abkühlte. Und los! Chaos! Dettweiler! An der Kandare! Ich holte das Manuskript heraus, den halben Bogen, die Buchstaben waren undeutlich. Ich senkte meinen Blick und rief, wie es sich gehört:
    »Civis academis!«
    Stille. Trotz allem. Etwas anderes war nicht zu erwarten gewesen. Das war nur eine Aufforderung, eine freundliche Geste. Doch es sollte mehr folgen:
    »Claris majorum exemplis.«
    Jetzt sah ich sie deutlich, einen nach dem anderen, die Professoren, die Doctores phil., cand.phil., meine mittelmäßigen Quälgeister, Quästoren, Prospektoren, Fährmänner, Vollidioten, Haarspalter, Drecksäcke, Dekane, Emeritierte, Angehörige, Blutarme, Liebste, Verlobte und alle akademischen Arschlöcher, kurz gesagt, der ganze Schlamassel.
    Ich konnte anfangen:
    »Meine Damen und Herren, wir haben reichlich von der Fürsorge, dem Glück und dem Standard genossen, die trotz allem unser geliebtes Land heimgesucht haben. Wenn ich das so sagen darf. Und dafür sollten wir von Herzen dankbar sein. Ohne die Geschichte gäbe es uns nicht. Wir haben das geerntet, was unsere Vorfahren gesät haben, selbst wenn sie sich das Gewehr in den Mund gesteckt und das Gesicht weggeschossen haben, und wir wollen uns nicht nur damit begnügen, das Erbe weiterzuführen, wir wollen besser werden, um auf diese Art diejenigen, die zuerst ihre Spuren über die medizinischen Nordpole gesetzt haben und uns den Weg zeigten, zu ehren.«
    Stille.
    Ich drehte die Rede um. Da stand nichts. Dann fand ich zurück auf die Vorderseite, auf der die Rede stand. Verschwenderisch.
    »Deshalb haben wir eine Verpflichtung. Nicht nur uns selbst gegenüber. Es sollte eigentlich nicht nötig sein, das zu sagen, denn wer hat das nicht? Wir haben sie alle. Wir dagegen, wir haben eine Verpflichtung, die größer ist. Sie wurde von uns ausgesucht und uns auferlegt. Wir stehen unter einem Eid. Lassen Sie mich einen unserer größten Vorgänger zitieren: Wir wollen die Verirrten vom Aberglauben und anderen unzivilisierten Missverständnissen wegführen. Wir wollen der Krankheit vorbeugen, indem wir die Gesundheit durch eine vernünftige Lebensweise stärken, die Abwehrkräfte des Geschlechts bewahren und sie wieder aufrichten, wenn sie aus irgendeinem Grund beschädigt wurden. Das ist unsere Mission. Aber bitte missverstehen Sie mich nicht, unsere Mission ist wissenschaftlich, streng und in allererster Linie human. Wir stehen im Dienste der Menschheit, und einzig und allein im Dienste der Menschheit. Und ich sage Ihnen, denn ein Arzt soll sich an die Wahrheit halten und nur an sie, ganz gleich in welchem festlichen Zusammenhang wir uns auch befinden, oder vielleicht gerade deshalb, denn wir brauchen kaltes Blut in den Adern, wenn es am schlimmsten brodelt: Meine Damen und Herren, wir gehen einem großen Elend entgegen. Sehen Sie sich nur selbst an. Heben Sie das Laryngoskop und sehen Sie Ihrem Nächsten direkt in die Augen. Wir werden überall gebraucht werden.«
    Das stand nicht in der Rede.
    Wieder drehte ich das Papier um, aber die Rückseite der Rede war immer noch leer.
    Es gab mich in zweifacher Ausfertigung, und damit nicht genug.
    Leider schaute ich auf und begegnete dem Blick des Publikums. Die festlich gekleideten Ärzte in spe, die ihre Empörung, ja ihre Drohung in Form eines Briefes auf meinen Platz im Lesesaal gelegt und mich in meine finstersten Semester gejagt hatten, sie beugten sich

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