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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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reicht ganz einfach nicht aus dafür, und deshalb sind wir es, die wir danach streben müssen, und nur selten kommen wir ans Ziel. Die Zeit, so wie Sie sie benutzen, ist nicht für uns geschaffen. Wir haben keine Zeit, um zu schlafen. Wir müssen zu lichtscheuer Medikation greifen, um unsere Absichten zu erreichen. Wir bräuchten ein ewiges Leben, um fertig zu werden, und deshalb habe ich beschlossen zu sterben.
    Nur Notto Fipp konnte mit seinem Willen, seinem Glauben und seiner Überzeugung der Tyrannei der Zeit widerstehen.
    Übrigens erwähnte er einmal etwas, was großen Eindruck auf mich machte: Es kam oft vor, dass er Dinge in diesen Sahneeimern fand, Haarnadeln, Eheringe, Korkenzieher, Gabeln und Löffel, Gott weiß, wieso die dort landeten, und es war notwendig, sich dieses Mülls zu entledigen, bevor die Sahne zu Butter verarbeitet wurde, eine Butter, die sogar im folgenden Jahr bei der Landwirtschaftsausstellung in Chicago eine Goldmedaille bekam. Eines Tages fand Notto sogar einen Kinderschuh, einen Kinderschuh auf dem Boden eines Sahneeimers. Dieser Anblick hat mich geritten. Und auch ihn. Ich weiß nicht, warum. Aber er lässt mich nicht los. Deshalb schließe ich dieses Thema hier vorläufig damit ab, indem ich erkläre, dass Kindheit eine überschätzte Entschuldigung ist. Das ist kaum zu ertragen. Man fügt hinzu und zieht ab, dreht und wendet, hier ein Einfall, dort ein Einfall, und zum Schluss wird die Kindheit zu einem rosaroten Märchen oder einem schwarzgemalten Albtraum, je nachdem. Ach, hört doch auf. Jammert mir nicht die Ohren voll mit diesem sentimentalen Mist. Ich habe es bei Patienten erlebt, und die sind banal wie Kreuzworträtsel und pathetisch wie Weihnachtsbäume. Sie brauchen einen Gegner, wie Doktor Lund immer zu sagen pflegte, mit anderen Worten Widerstand, und manche glauben, Widerstand sei ungerecht, die Armen, sie werden gefeuert, erfahren Ablehnung, sie werden getrennt, von dem einen oder anderen abhängig, Alkohol, Spiel, Damen, Herren, sie können nicht schlafen, sie kriegen weder Erektionen noch Orgasmen, kurz gesagt, sie treffen auf Widerstand, und sofort schieben sie die ganze Schuld auf die Kindheit. Das ist das Erste, was ihnen einfällt. Oh, Kindheit, verlasse mich, so schnell es geht! Sie schieben die Schuld auf einen Vater, der nie da war, auf eine Mutter, die leider immer da war, oder auf beide, dann ist das Hotel der Entschuldigungen ausgebucht, nicht ein Zimmer mehr frei. Sie kommen mit allem Möglichen an, sie sind übersehen worden, verwöhnt, geschlagen, verhätschelt und missverstanden, alle, bis auf sich selbst, führen sie an. Denn sie selbst haben keine Schuld. Nein, sie tragen keine Verantwortung. Ich kann nichts dafür, jammern sie. Sie sind nur Opfer. Sie halten Gericht. Sie gehen zum Höchsten Gericht, um ihre Unschuld zu beweisen. Ich verabscheue sie, damit das klar ist. Manchmal bin ich kurz davor zu sagen: Du bist gescheitert, mein Freund, in allem, und ich glaube, dass dir und dem Rest der Welt damit gedient wäre, wenn du so bald wie möglich Schluss machst.
    Aber das sage ich natürlich nicht.
    Das ist nur etwas, was ich zu mir selbst sage, und ich werde meinem Rat folgen.
    Ich, der Kantige, bin stattdessen großzügig mit meinen seligen Rezepten. Das ist zu ertragen, solange der Briefschlitz mein Büro ist.
    Und ich wiederhole: Die Kindheit wird überschätzt.
    Hört nur: Notto bekam keine Milch von seiner Mutter, weil sie krank war und ihn nicht der Gefahr aussetzen durfte, angesteckt zu werden. Eine Entscheidung der Vernunft, mit Folgen, was ich zugeben muss. Später war er wie besessen von Milch und konnte nie genug davon bekommen. Ja, er war eine Zeitlang sogar in Chicago bei einer richtigen Meierei beschäftigt und konnte den ganzen Tag lang in Milch baden, die er sein Lebenselixier nannte. Auch ich wurde von meiner eigenen nervösen Mutter auf Besserud nicht gestillt, denn sie hatte in einer französischen Zeitschrift gelesen, dass Frauen, die stillen, schneller altern. Und dieses Risiko wollte sie nicht eingehen. Man kann es nicht anders sagen, als dass sie auf ihrer Meinung beharrte. Sie entschied sich für ihr Aussehen und gegen mich. Eine Wahl der Unvernunft und der Eitelkeit. Mit anderen Worten, sie war ihrer Zeit voraus, ihrer undankbaren und selbstgerechten Zeit. Aber das ist nichts, über das man sich aufregen muss, ich sagte es bereits. Ich wurde von üppigen Kindermädchen gestillt, die kamen und gingen, und mag seitdem keine

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