Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
du wirst nie ein Pathologe. Denn das ist kein Kadaver. Das ist ein Mensch. Nicht ein Tier! Sie können gehen. Und während ich redete, betete ich in meinem Inneren. Ich sprach sozusagen zwei Sprachen gleichzeitig. Aber nützte das etwas? Keineswegs. Und ich nehme an, dass es nicht mein Fehler war, denn falls es Gott gibt, so muss er ja wohl nicht unbedingt die Gebete hören. Denn was wäre dann mit den Taubstummen? Sollten die nicht auch einen Platz in den himmlischen Logen haben? Ich versuchte es mit dem Gottesdienst unten in der Kirche von Riis, vielleicht würde es ja etwas helfen, mit anderen gemeinsam zu beten oder dass andere an meiner statt beteten. Es half überhaupt nichts. Eines Abends fand ich das Eichhörnchen tot im Gras unter der Kiefer. Die Holmenkollenbahn war verspätet. Sigrid konnte sich nicht qualifizieren, weder im Single noch im Double. Aber es war nicht Gott, ihre Hoheit, das Antlitz, dieser Schelm und Falschmünzer, zu dem ich betete. Und es war auch nicht die Welt, für die ich letztendlich betete. Ich betete nur für mich und sonst niemanden. Mein Hunger musste gestillt werden. Mein Zwang musste erfüllt werden. Meine Kanten mussten geschliffen werden. Meine Saiten mussten erschlaffen.
»Redest du jetzt auch noch mit dir selbst?«, fragte Sigrid eines Morgens.
»Wieso?«
»Na, es sieht jedenfalls so aus.«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Kann schon mal vorkommen.«
»Schon mal vorkommen? Du tust es doch die ganze Zeit.«
Sigrid äffte mich nach. Sie bewegte stumm und schnell ihre Lippen. Ich errötete. Sie brachte mich zum Erröten. Ich schaute in meine Kaffeetasse, wütend, beschämt. Es muss ein Sonntag gewesen sein. Der Ton war nicht mehr so gut wie vorher. Sie hatte sich wie gesagt nicht für die Olympiade in Berlin qualifiziert.
»Ich memoriere meine Doktorarbeit«, sagte ich.
Einen Moment lang leuchtete sie auf.
»Dann bist du bald fertig?«
»So eine Arbeit ist nicht gerade eine Postkarte, meine Liebe.«
»Aber was memorierst du dann? Nichts?«
Sie sagte memorieren, als wäre es ein Schimpfwort.
»Ich memoriere den Gedanken«, sagte ich.
»Den Gedanken? Bist du noch nicht weitergekommen?«
»Der Gedanke kommt zuerst, meine Liebe.«
»Du musst nicht die ganze Zeit meine Liebe sagen, mein Lieber.«
»Entschuldige.«
»Du memorierst also etwas, was es noch nicht gibt, wenn ich dich richtig verstanden habe, mein Lieber?«
»Den Gedanken gibt es«, sagte ich.
»Jetzt hast du es wieder gemacht.«
»Was?«
»Mit dir selbst geredet. Gibt es mich nicht?«
Das war eine überwältigende Replik, so unerwartet, so voller Trauer und Anklage. Und sie traf mich mit einer genauso überwältigenden Kraft. Ich versuchte ihre Hand zu ergreifen, doch sie zog sie zurück. Übrigens war der Tisch auch zu groß. Wir saßen zu weit voneinander entfernt. Ich hätte herum gehen können, tat es aber nicht. Das hätte ich tun sollen.
»Dich gibt es«, sagte ich.
Die Worte klangen armselig, und ich schämte mich noch mehr. Und das war genau der Moment, an dem es mit uns zu Ende war, auch wenn es noch eine Weile weiterlief.
Sigrid stand auf.
»Ich würde gern ein paar Leute einladen. Was hältst du davon?«
»Schön. Du kannst ja beispielsweise Tora einladen. Oder wen du willst.«
»Ja, Bernhard. Genau, wen ich will.«
Sigrid ging hinaus auf die Terrasse und blieb dort stehen, mit dem Rücken zu mir. Ihr Schatten fiel in der niedrig stehenden Morgensonne durch das Wohnzimmer und färbte die Tischdecke schwarz.
Hätte ich nur ein Wort gefunden, das all meine Gebete und Beschwörungen beinhaltete und mich aus der Zeit befreite, ein einziges Wort! Ozaena! Gnade! Notto!
Ja, in Notto war Platz für alles.
Doch ich wurde nicht befreit. Hatte ich das tatsächlich geglaubt? Sobald ich aufhörte zu beten und nur noch ab und zu »Notto« flüsterte, kamen meine alten Zwänge mit voller Kraft zurück. Ich schnaubte, schluckte, trampelte, spuckte, zählte, leckte, äffte nach, meine tic convulsif wurden noch schlimmer, meine lapsus linguae noch grober, ich drehte allen Spiegeln den Rücken zu, vermied die meisten und hielt mich an die Toten.
Oh, alle gesammelten Fotzen des Teufels!
Dann stellte sich heraus, dass Sigrid meinte, was sie gesagt hatte. Eines Abends, es war im Oktober, verzichtete ich auf die Bahn, ich ging den ganzen Weg hinauf nach Besserud, um etwas frische Luft um die Nase zu bekommen. Ich hatte eine erschütternde Arbeit hinter mir, es hatte mich nahezu zerrissen. Eine Frau
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