Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
Sommerolympiade in Berlin 1936, wo Tennis wohl wieder auf dem Programm stehen sollte, sowohl Damen als auch Herren, Single und Double, drinnen und draußen. Sie erneuerte ihre Mitgliedschaft im Norwegischen Rasentennisverbund, kaufte drei neue Schläger, der, den sie von mir bekommen hatte, taugte nichts mehr, er war nur noch dafür gut, Wespen zu töten, und meldete sich in Hemming an. Was der Grund für Sigrids Gemütswandlung war, kann ich nicht genau sagen, ich bin ja kein Menschenkenner, aber ich stellte mir vor, dass es etwas mit Achtung zu tun hatte. Ich war in ihrer Achtung gestiegen, und deshalb musste sie auch steigen, möglichst noch höher. Sie trainierte fleißig und gewann ihre alte Geschmeidigkeit und Kraft zurück. Sie behauptete auch nicht mehr, dass ich nach Leichen röche. Wir ähnelten fast einer Ehe. Dann passierte etwas: Als ich die Bilder von Hitlers Machtübernahme in Berlin sah, mit dem Fackelzug durch das Brandenburger Tor und Tausenden von Menschen, die mit in die Luft gereckten Armen dastanden, war es abrupt Schluss mit meinen eigenen Armschwüngen. Ich brauchte einen Abend und eine ganze Nacht, um sie an Ort und Stelle zu bekommen. Ich konnte es mir nicht erlauben, mit so einem lächerlichen Arm herumzulaufen. Stattdessen übernahm ich einen neuen Zwang, der keineswegs neu war, er hatte seit Nottos Tod dagelegen und gewartet, dass seine Zeit kommt. Jetzt schlug er in voller Blüte aus. Ich fing an zu beten. Worum ich bat? Um alles. Nichts war zu gering. Ich betete um alles und nichts. Für wen ich betete? Für alle, die mir über den Weg liefen, und nicht nur für sie, ich betete für alle, von denen ich las oder hörte und von denen ich meinte, sie bräuchten ein Gebet. Ich musste aufhören, Zeitungen zu lesen, in ihnen stand ja nichts anderes als ein Elend nach dem anderen. Und ich betete für die Schaffner der Holmenkollenbahn. Ich betete für Sigrid. Ich betete für Alfred Melingen und Tora und Sigrids Eltern. Ich betete für meine Mutter. Ich betete für meinen Vater. Ich betete für Alma und ihren Wintergarten, für Doktor Lund und ihren Sohn. Ich betete für das Steak. Ich betete für das Eichhörnchen in der Kiefer hinter dem Haus. Ich betete für die Vögel, wenn es eine Sonnenfinsternis gab. Es kam so einiges zusammen. Bald war keine Zeit mehr für etwas anderes als diesen unablässigen Aberglauben. Ich betete, wenn ich aß, ich betete, wenn ich ging, ich betete, wenn ich schlief, und konnte deshalb nicht schlafen, ich betete, wenn ich die Leichen aufschnitt, und ich betete, wenn ich Sigrid mit meinem hohlen Eisen pikierte. Ich betete lautlos. Ich war eine stumme Kirche. Nur ab und zu kam es vor, dass ich in ein lautes Gebet ausbrach, es konnte jederzeit passieren, beispielsweise in der Bahn auf dem Weg in die Stadt, oh Gott, erbarme dich des Eichhörnchens in der Kiefer, die Passagiere drehten sich mit offenem Mund um, da waren Taschentuch und die Dettweiler von Nutzen, das sage ich euch. Es konnte auch über einer Leiche passieren, wie etwa einem Herrn, der nackt mit einer Wäscheleine zweimal um den Hals gewickelt aufgefunden wurde, aufgehängt an einem Nagel in der Ecke eines Pensionszimmers auf Sagene, und dort hatte er mindestens eine Woche gehangen, lieber Gott, dein Antlitz, lass Sigrid das Mixed Double gewinnen! Die Assistenten und Studenten zogen sich zurück, und da war mein Klosterlatein von genauso viel Nutzen wie die Dettweiler und das Taschentuch. De mortuis nil nisi bene! Was ich diesen Eselsköpfen übersetzen musste: Sprich nichts Schlechtes über die Toten. Ein examinatus juris, noch mit Pickeln auf der Stirn, lachte und machte sich darüber lustig: Der Kadaver kann doch sowieso nichts hören, sagte er. Ich zog den Jungen zu mir heran. Er kam nur widerstrebend. Leg deine Hand auf sein Gesicht, sagte ich. Er weigerte sich. Das Gesicht war zyanotisch, also aufgedunsen und blau, die Zunge in dem weit geöffneten Mund eingeklemmt, die Augen zur Seite geglitten, wie bei einem Fisch. Tu, was ich dir sage, wiederholte ich. Der Junge näherte sich mit seiner Hand, zögerte aber immer noch. Möchtest du lieber seinen Penis anfassen?, fragte ich. Er ist dir doch aufgefallen? Der Junge nickte mehrere Male. Erklär mir das! Er war erleichtert: Die Blutungen in diesen hypostatisch überfüllten Teilen findet man bei Erhängten in den unteren Extremitäten und außerdem im Skrotum und im Penis. Deshalb die Erektion. Ich applaudierte. Hervorragend! Der Junge errötete. Aber
Weitere Kostenlose Bücher