Die universellen Lebensgesetze des friedvollen Kriegers
Vergangenheit und einer Zukunft, die keine objektive Realität besitzen. Sie ist nur eine Konvention unseres Denkens und unserer Sprache, eine Übereinkunft unserer Gesellschaft.»
«Mit anderen Worten: Die Zeit existiert nur, weil wir behaupten, daß sie das tut?»
«Genau», flüsterte sie. «Deine Lebenszeit ist wie ein Film, der aus lauter verschiedenen Einzelbildern besteht, die an einem Projektionsobjektiv vorbeiziehen. Jedes Einzelbild zeigt einen Ort, an dem du in einem gegenwärtigen Augenblick deines Lebens existierst, aber die Bilder scheinen sich zu bewegen. Du kannst dich in Gedanken in die sogenannte Vergangenheit oder Zukunft hineinversetzen, aber leben kannst du nur in der Gegenwart. Meine Artgenossen und ich sind Meister in dieser Kunst.» Nach diesen Worten räkelte sie sich, legte sich graziös auf dem Boden nieder und beschäftigte sich mit der Pflege ihres Fells.
Ich dachte über ihre Worte nach. Schon immer hatte ich eine Vorliebe für Katzen gehabt, trotz der unnahbaren Überlegenheit, die sie zur Schau trugen. Und wenn es auch verrückt sein mochte, das Gesetz der Gegenwart ausgerechnet von einer Katze zu lernen, so kam es mir doch andererseits sehr passend vor. Katzen scheinen sich nicht sonderlich um Vergangenheit oder Zukunft zu kümmern. Wie die weisesten aller Menschen leben sie jeden Augenblick so, als sei er etwas völlig Neues.
Die Katze blickte mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu mir empor. «Meine Artgenossen und ich sind so eindrucksvolle Persönlichkeiten, weil wir immer voll und ganz präsent sind: Jetzt und hier. Kannst du das gleiche von dir behaupten?»
«Von mir? Eigentlich schon. Ich — manchmal habe ich schon das Gefühl, jetzt in diesem Augenblick dazusein. Das heißt...», stammelte ich. Aber die Katze hatte sich unterdessen wichtigeren Dingen zugewandt. Im Augenblick beobachtete sie einen Nachtfalter, der im Feuerschein umherflatterte.
«Was du heute früh oder gestern oder letztes Jahr getan hast, existiert nur noch in deinem Kopf», fuhr sie schließlich
fort, als verdienten meine Worte keinen weiteren Kommentar. «Und was als nächstes kommen wird, ist bis jetzt nichts weiter als ein Traum. Wir haben nur diesen Augenblick. Verstehst du, was ich meine?»
«Ja, ich verstehe!» rief ich, obwohl mir noch gar nicht so klar war, was ich eigentlich verstehen sollte.
«Ich habe noch nicht zu Ende gesprochen. Ist dir klar, daß dieses Gefühl von der Vergänglichkeit der Zeit in Wirklichkeit nur eine Reihe von Eindrücken und Erinnerungen ist, die jetzt in diesem Augenblick an deinem inneren Auge vorüberziehen? Wenn wir etwas Vergangenes bedauern, so sind das Eindrücke, die jetzt, in dieser Sekunde in uns aufsteigen. Und auch unsere Sorgen um die Zukunft existieren nur in diesem Moment in unserem Kopf — als Bilder, Geräusche und Empfindungen. Mit anderen Worten: Vergangenheit und Zukunft existieren jetzt in diesem Augenblick , und du selbst erschaffst sie.»
«Und das soll das Gesetz der Gegenwart sein? Mir kommt das reichlich abstrakt vor», sagte ich in dem vagen Versuch, in diesem Gespräch die Oberhand zu gewinnen.
«Das Abstrakte daran ist die Zeit », erwiderte sie. «Aber du kannst das Gesetz der Gegenwart auch ganz praktisch anwenden, um Sorgen, Reue und Verwirrung aus deinem Denken zu verbannen. Je mehr du übst, um so leichter wird es dir fallen, deine Aufmerksamkeit immer wieder auf den gegenwärtigen Moment zurückzulenken. Eines Tages wird dir diese Einstellung vielleicht genauso selbstverständlich sein wie mir.»
Sie muß wohl immer das letzte Wort behalten, dachte ich. Aber irgendwie hatte diese Katze ja recht, und ganz offensichtlich praktizierte sie selbst, was sie mir da predigte. In diesem Augenblick schweiften meine Gedanken ein paar Sekunden lang ab, und ich schaute zur Tür. Wo blieb die
weise Frau denn nur? Eigentlich hätte sie längst zurück sein müssen.
«Hallo!» hörte ich die Katze rufen, und mit einem Schlag kehrten meine Gedanken wieder in die Gegenwart zurück. «Verstehst du jetzt, daß das Gesetz der Gegenwart dein Leben für immer verändern kann? bedeutet natürlich jetzt , in diesem Augenblick.»
«Ich weiß schon lange, wie wichtig es ist, in der Gegenwart zu leben», erwiderte ich scharf in dem kläglichen Versuch, wenigstens ein bißchen von meiner Selbstachtung zu retten.
«Wissen und Tun sind oft zweierlei, vor allem bei dir», schnurrte sie mit selbstzufriedenem Gesichtsausdruck. «Alle deine Probleme
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