Die universellen Lebensgesetze des friedvollen Kriegers
Winters
zittert bereits wieder der Frühling,
und hinter dem Schleier jeder Nacht
wartet ein lächelndes Morgengrauen.
Kahlil Gibran
I n dieser Nacht hatte ich einen lebhaften Traum. Jedenfalls vermute ich, daß es ein Traum war: Die Stimme der weisen Frau weckte mich. Draußen war es schon hell, obwohl es mir so vorkam, als sei ich gerade erst eingeschlafen. Ich spürte die blauen Flecken und Kratzer meines Sturzes vom Tag zuvor nicht mehr; eigentlich spürte ich meinen ganzen Körper kaum. «Komm», sagte die weise Frau. Ich kann mich nicht erinnern, daß sich ihre Lippen bewegt hätten. Dann stand ich an der Tür der Hütte und blickte in einen strahlenden Sommertag hinaus. Das Gras war schon braun geworden, und die Luft war trocken und staubig.
«Mach die Augen zu», forderte sie mich auf. Ein paar Sekunden lang herrschte vollkommene Dunkelheit und Stille. Als ich die Augen wieder aufschlug, blickte ich in einen bewölkten Herbsttag. Offenbar hatte es gerade geregnet, denn die Luft war frei von Staub, und in den trockenen Grasbüscheln zeigten sich Spuren von Grün. Ein kühler Wind blies mir ins Gesicht, und ich schloß erneut die Augen.
Diesmal spürte ich die eisige Frische des Winters, als ich die Augen öffnete. Alle laubabwerfenden Bäume waren kahl, und auf den abgefallenen Blättern lag Rauhreif. Ich trat hinaus, spürte die harte, kalte Erde unter meinen Füßen und hörte in der Ferne Donnergrollen.
Im Nu war es wieder frühlingshaft warm. «Die Natur tanzt zu den Rhythmen der Veränderung», hörte ich die weise Frau sagen, «zur Aufeinanderfolge der Jahreszeiten, zu den Umdrehungen des Firmaments und zum ewigen Wechsel zwischen Tag und Nacht. Alles geschieht zu seiner Zeit: Veränderung und Wachstum, Kommen und Gehen, abnehmender und zunehmender Mond, Ebbe und Flut. Alles, was aufsteigt, wird eines Tages untergehen, und alles, was versinkt, wird eines Tages wieder aufsteigen. Das ist das Gesetz der Zyklen.»
Sehr erfrischt wachte ich am nächsten Morgen auf, spürte aber wieder die Wunden und Prellungen meines Sturzes. Nachdem ich mein Gesicht mit einer Handvoll kaltem Wasser gekühlt und ein paar Beeren gegessen hatte, forderte die weise Frau mich auf, mit ihr an einen ganz besonderen Ort oben in den Hügeln zu wandern. Beim Aufstieg über einen felsigen Pfad erzählte ich ihr von meinem Traum.
«Von den Jahreszeiten kannst du vieles lernen. Dein Traum ist ein Zeichen dafür, daß du jetzt innerlich bereit bist, es zu verstehen», kommentierte sie.
«Was zu verstehen?»
«Daß der frische Wind der Veränderung in Gestalt eines heftigen Orkans kommen kann, der dein Leben in Stücke reißt, aber auch als sanfte Brise, die deine Wangen streichelt. Das einzig Beständige ist die Veränderung und die Tatsache, daß sie sich zu ihrer Zeit und auf ihre eigene Weise vollzieht.»
«Ich stehe Veränderungen mit gemischten Gefühlen gegenüber. Manchmal, wenn das Leben langweilig ist, sehne ich mich danach, doch wenn alles gut läuft, können schwierige Veränderungen ziemlich - na ja, eben schwierig sein.»
«An der Veränderung selbst ist nichts Schwieriges», widersprach die weise Frau. «Sie ist so natürlich wie der Sonnenaufgang. Aber die meisten Menschen bevorzugen die
Routine. Sie gibt ihnen das Gefühl, daß alles in Ordnung ist und sie ihr Leben unter Kontrolle haben. Veränderung kann also ein Segen, aber auch ein Fluch sein, je nachdem, was wir uns wünschen: Der Regen, nach dem die Blumen dürsten, ist für die Ausflügler, die sich auf ein Picknick im Freien gefreut haben, ein Ärgernis.
Das Gesetz der Zyklen erinnert uns daran, daß wir uns verändern müssen, genau wie eine Jahreszeit auf die andere folgt. Unser Leben muß nicht immer in denselben alten Bahnen verlaufen, und unsere Zukunft braucht nicht unbedingt so auszusehen wie unsere Vergangenheit. Die treibende Kraft dieser Veränderungen wird uns letzten Endes zu größerer Bewußtheit, größerer Weisheit und tieferem Frieden hinführen. »
Auf ihren üppig grünen Garten zurückblickend, setzte sie hinzu: «Wenn man einen Garten durch alle vier Jahreszeiten hindurch betreut, lernt man noch viel mehr über die Natur. Zum Beispiel bringt jeder Same immer nur Pflanzen der gleichen Art hervor; man kann nichts ernten, was man nicht gesät hat; man sollte bei der Ernte stets ein paar Samen für die neue Aussaat im nächsten Frühjahr beiseite legen; man muß erst einmal einen Zyklus beenden, ehe man mit einem neuen beginnen
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