Die Unseligen: Thriller (German Edition)
»Wie immer.«
»Und dein Sohn?«
»Wir haben ihm noch nichts gesagt. Maëlle will zuerst eine Entscheidung treffen.«
»Hat sie von Scheidung gesprochen?«
»Sagen wir, dass ihr das Wort entschlüpft ist.«
»Mist, tut mir leid, Alter.«
»Ich weiß nicht, wer von uns mehr Mitleid verdient … Ich, der nach fünfundzwanzigjähriger Ehe sitzen gelassen wird … « Er warf einen Blick auf das Jo-Jo in den Händen Benjamins. »Oder du, der in eine Frau verliebt ist, die deine Tochter sein könnte.«
»Du vergisst, dass ich außerdem nur eine einzige Nacht mit ihr verbracht habe … «
Jacques zündete sich eine Zigarette an, und ein Rauchschleier zog an seinen Augen vorüber.
»So habe ich mir das Älterwerden nicht vorgestellt«, flüsterte er. Benjamin strich mit der Spitze des Zeigefingers die Scheibe des Jo-Jos entlang. Er hatte das Spielzeug sorgfältig zusammengeflickt, aber es fehlten Stücke. Er hatte begonnen, dieses Objekt als Ebenbild seines Lebens zu betrachten: eine Abfolge von erfüllten und leeren Momenten.
Zu viele Momente der Leere.
122
»Mein Name ist Megan Clifford, und ich möchte meinen Eltern sagen, dass ich sie liebe. Falls mein Leichnam jemals gefunden wird, will ich auf dem Mount-Olivet-Friedhof in Chicago beigesetzt werden, in der Nähe des Grabes meiner Tochter … Eine Trauerfeier will ich nicht.« Sie schwieg einige Sekunden lang und wiederholte: »Nein, keine Trauerfeier … «
Vor der Kamera zog Megan ihr T-Shirt nach unten, um ihren Slip zu verbergen. Die Zugluft in dem Haus strich über ihre nackten Schenkel, und der säuerliche Geruch nach Urin und Schimmel brannte ihr in der Nase. Seit Monaten dachte sie darüber nach, was sie sagen würde, wenn man ihr die Möglichkeit gäbe, sich frei zu äußern. Doch sie hörte die Worte, die sie eingeübt hatte, zwar in ihrem Kopf, aber ihren Lippen gelang es nicht, sie auszusprechen. Manche Gefühle entziehen sich der Sprache, Emotionen, die ein Satz nicht ausdrücken kann, ohne sie ihres Sinns zu berauben.
Megan sah einen von Umarus Männern zurückkommen und verkrampfte sich. Angst strömte durch ihre Adern, als sie Billy Bob erkannte.
Von all den Vorbestraften, die zu der Bande von Umaru Atocha gehörten, war Billy Bob der Brutalste, der nur für zwei Dinge lebte: das Lösegeld, das ihm der Albino versprochen hatte, und das Leid, das er in der Zwischenzeit anderen Menschen zufügen konnte. Ihm verdankte Megan die Striemen auf ihren Armen und die ständigen Albträume, die sie in den Nächten quälten.
»Noch eine Minute … ich flehe Sie an«, murmelte sie.
Billy Bob räusperte sich und spuckte aus, ehe er die Kamera ausschaltete. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, während er das dunkle Band, das ihr Schamhaar unter dem Slip zeichnete, anstarrte.
»Los, komm her, meine Schöne … « Er sprach einen anderen Mann im Nebenzimmer an: »Bring den Priester her, er ist jetzt dran.«
Er packte Megan am Arm und stieß sie in das heruntergekommene Wohnzimmer, in dem überall Pizzaschachteln und Bierdosen herumlagen. Eine der Prostituierten, die Umaru für seine Männer bezahlte, lümmelte auf einem Ecksofa herum und zog an einer Crackpfeife. Der Lärm der Stadt hinter den zugezogenen Vorhängen zerfiel in tausend verschiedene Geräusche – das Hupen von Sammeltaxis, die Schreie von Straßenhändlern, das Lachen von Kindern, die auf dem Basketballfeld in der Nähe des Hauses spielten – , doch wenn man aufmerksam hinhörte, schienen diese Geräusche zu einem einzigen zu verschmelzen, einer Stimme mit unendlichen Modulationen.
Gestützt von einem der Söldner Umarus, verließ Pater David das Zimmer, das er mit Megan bewohnte. Mit unsicheren Schritten schlurfte er durchs Wohnzimmer. Seit über einer Woche litt er an einem schweren Malariaanfall, seine Temperatur schnellte alle zwei Tage in die Höhe, um dann jäh zu fallen. Starke Schweißausbrüche und Schüttelfrost ließen ihn nachts wach liegen, und er hatte rötlich-violette Schatten unter den Augen.
Billy Bob wartete darauf, dass der Priester das Nebenzimmer betrat, und strich mit der Hand über Megans Gesäß.
»Du solltest ein bisschen was futtern«, feixte er. »Du wirst noch so dürr, dass ich keinen Steifen mehr kriege.«
Sie schloss die Augen und versuchte, in sich Geist und Körper zu trennen, aber der Druck war hartnäckig. Sie verharrte vollkommen reglos, da sie wusste, dass sie keine Chance hätte, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Wie jeder Junge
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