Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Türrahmen lehnte und sie beobachtete. Die Frau schluchzte und hielt sich ein blutverschmiertes Taschentuch an die Nase.
»Er wird Sie noch umbringen«, sagte Megan.
Die junge Frau zuckte mit den Schultern.
»Wer, Billy Bob? Er schlägt wie ein Mädchen.« Sie betastete ihre Nase. »Und außerdem hab ich ein dickes Fell … Aber er hat recht. Du musst essen.«
Megan nickte und fuhr fort, Naïs zu füttern.
»Du magst diese Kleine, nicht?«
»Ich hab nicht wirklich eine andere Wahl.«
»Hast du selbst Kinder?«
»Nein.«
»Ich, ich hab zwei Kinder. Ein Mädchen und einen Jungen. Mein Mann kümmert sich um sie.«
»Arbeitet er nicht?«
»Ich merk schon, worauf du hinauswillst. Du denkst: Ein Typ, der seine Frau auf den Strich gehen lässt, ist entweder ein Perverser oder ein Faulenzer, nicht wahr?« Ein vages Lächeln schwebte auf ihren Lippen. »Du täuschst dich, meine Liebe. Mein Mann ist ein prima Kerl. Und die prima Kerle sind in der Welt von heute nicht dort, wo sie hingehören.«
Sie stand auf und machte einige Schritte im Zimmer, wobei sie darauf achtete, gebührenden Abstand von Naïs zu halten. Der Albino hatte sich diesbezüglich sehr klar ausgedrückt: Bis auf die Krankenschwester und den Priester darf sich niemand dem Mädchen nähern – wer dies doch tut, wird umgebracht. Aber das Bedürfnis zu sprechen schien stärker zu sein als die Angst vor einer Kugel im Kopf.
»Er hat Platten verkauft«, fuhr sie fort, »und er spielte auch Saxofon. Er ist in der Republik Kalakuta aufgewachsen … « Sie verstummte für einen Moment und starrte Megan an. »Du weißt nicht einmal, wovon ich rede, oder?«
»Tut mir leid … «
»Die Republik Kalakuta, so hat Fela Kuti sein Haus genannt. Weißt du wenigstens, wer Fela ist?« Als sie den fragenden Gesichtsausdruck von Megan sah, schüttelte sie den Kopf. »Mist, ihr Einfaltspinsel seid wirklich zum Schießen, ihr kommt hierher und habt keine Ahnung von diesem Land. Fela Kuti ist der größte Sänger aller Zeiten. Er hat gegen die Diktatur gekämpft, er ist dafür sogar in den Knast gegangen. Um der Regierung eins auszuwischen, hat Fela eines Tages Mauern um seinen Garten hochgezogen und sein Haus »Republik Kalakuta« genannt. Er lebte dort mit seiner Familie und seinen Freunden. Und mein Mann ist dort aufgewachsen. Fela hat ihm sogar beigebracht, Saxofon zu spielen.« Ihre Gesichtszüge wurden hart. »Und dann sind die Soldaten gekommen, tausend Soldaten, stell dir mal vor! Und die haben alles niedergebrannt, sie haben die Frauen vergewaltigt und geschlagen, und Felas Mutter haben sie sogar umgebracht. Und alles nur deshalb, weil Fela Kuti gesungen hat, was alle insgeheim dachten … «
Megan half Naïs, sich auszustrecken und das Gesicht aufs Kopfkissen zu legen. Der Hund rollte sich an den Füßen des Mädchens ein. Megan wandte sich zur Tür, während sie weiterhin sanft über die Haare des Mädchens strich.
»Mein Mann«, fuhr die Prostituierte fort, »hat den Kampf von Fela fortgesetzt … « Traurigkeit und Wut verschleierten ihre Augen. »Aber die Musik ist zu schwach gegen sie. Die Musik kann dir viele Dinge bewusst machen, aber Kugeln kann sie nicht stoppen.«
»Was ist passiert?«
»Eines Nachts stand die Polizei vor unserer Tür, und sie haben auf ihn und auch auf unsere Kinder geschossen … Seitdem passt er dort oben auf sie auf.« Sie betrachtete die Decke und sah nur große, dunkle Stockflecken. »Aber es ist nicht so wichtig, wo sie sind … «
Die Frau biss sich auf die Unterlippe und zog die Nase hoch. Sie kramte in ihrer Tasche und nahm ein Tütchen mit kristallisiertem Kokain heraus.
»Mhm, nicht so wichtig, wo sie sind«, wiederholte sie und schickte sich an, zurück ins Wohnzimmer zu gehen, um sich erneut einen Trip reinzuziehen.
»Ich habe vorhin gelogen«, sagte Megan. »Ich habe eine Tochter gehabt. Sie ist tot.«
Die Prostituierte blieb mit dem Rücken zu der jungen Frau stehen.
»Dann weißt du ja, wie das ist … Billy Bob kann uns verdreschen, wie er will, das tut niemals genauso weh.«
123
Es war vermutlich gegen zehn Uhr abends, als Megan erlaubt wurde, sich zu duschen. Unter dem warmen Wasserstrahl seifte sie sich lange ein und schrubbte sich die Haut, bis das brennende Gefühl nachließ. Im Erdgeschoss grillten Umarus Männer, und der Fleischgeruch drang durch das Lüftungsrohr ins Badezimmer. Sie hielt die Augen geschlossen und versuchte sich vorzustellen, sie wäre an einem anderen Ort, weit weg von dem mit
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