Die Unseligen: Thriller (German Edition)
einem Zug aus. »Ich hasse Geburtstage.« Jacques verzog das Gesicht und strauchelte so sehr, dass er sich an der Wand festhalten musste. »Ganz besonders meinen eigenen … «
Benjamin half ihm, gerade zu gehen.
»Tu wenigstens so«, flüsterte er, »sie haben sich mit dem Geschenk große Mühe gegeben.«
Fast alle Büros waren von Ärzten, Krankenschwestern und ehrenamtlichen Mitarbeitern besetzt. Die Tische und die Computer waren nach hinten geschoben worden, und eine mit einem Papiertischtuch bezogene Anrichte war in die Mitte des Raums gestellt worden. Stücke von Dreikönigskuchen lagen auf Papptellern, und Becher, in denen Kippen schwammen, standen herum. Zwei Praktikanten gingen mit Tabletts, auf denen Cocktailwürstchen und Käsewürfel angerichtet waren, zwischen den Gästen umher. Ein Spruchband, auf das mit Filzstift »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Jacques« geschrieben war, baumelte unter dem grellen Licht.
Benjamin wollte sich gerade unter die Gäste mischen – und sich vielleicht in den gleichen Zustand wie Jacques versetzen – , als jener ihn am Ärmel zog.
»Da, du musst das aufsetzen«, sagte er und drückte ihm einen spitzen Hut mit aufgeklebten kleinen Goldsternen in die Hände. Widerwillig streifte Benjamin das Gummiband über sein Kinn, angefeuert von dem Beifall und den Pfiffen der anderen Ärzte. Jemand drehte die Stereoanlage lauter, und aus den Boxen ertönte ein alter Rockabilly-Song.
An ein Schränkchen gelehnt, trank Benjamin einen großen Schluck Bier und betrachtete das Spruchband über der Anrichte. Die Feuchtigkeit in dem Zimmer löste die Tinte auf, und der Schriftzug begann zu zerlaufen. Er schenkte sich ein drittes Glas ein, wobei er den Kopf im Rhythmus der Musik hin und her bewegte. Er kam nicht in den Genuss der leichten Euphorie der Trunkenheit, da sein Verstand nicht losließ, sondern immer wieder die Informationen des Genetikers und die Folgerungen, die sich daraus ergaben, durchging. Yaru Aduasanbi hatte Naïs entführt, um Druck auf den nigerianischen Staat auszuüben und sie zu verkaufen. Er hatte diesen Plan mit seinem Leben bezahlt. Umaru Atocha war von der Regierung damit beauftragt worden, sie aufzuspüren, aber er hatte es sich anders überlegt und verfolgte jetzt eigene Pläne mit dem Mädchen. Henry Okah, die letzte Figur auf dem Spielfeld, hatte als Gegenleistung für das Mädchen und die Ausschaltung Aduasanbis und des Albinos seine Freiheit ausgehandelt.
Benjamin seufzte. Er hatte das Gefühl, ein bloßer Statist bei einem jener Raubüberfälle zu sein, bei denen jeder Räuber die Beute für sich haben will. Der einzige Unterschied, dachte er, bestand darin, dass der Koffer voller Geld hier ein krankes Kind war.
Ein Kind, das nicht alterte …
Dieser schlichte Satz entlockte ihm ein nervöses Lachen. Jedes Mal, wenn er daran dachte, blinkten die Wörter »grotesk« und »absurd« irgendwo in seinem Kopf. Er fragte sich, ob es eines Tages jemandem gelänge, dieses mutierte Gen in der DNS von Naïs oder von Brooke zu isolieren, und, wenn ja, ob dann Geburtstage weiterhin gefeiert würden. Wäre es wirklich ein Segen, wenn dem Menschen die Qualen des Alters erspart blieben? War die Menschheit geistig so weit fortgeschritten, dass sie das ewige Leben verdiente? Nach seinen persönlichen Erfahrungen zu urteilen, lautete die Antwort Nein. Benjamin nahm einen Stuhl und setzte sich darauf. Um ihn herum verabschiedeten sich bereits die ersten Gäste; sie gaben vor, ihre Kinder abholen zu müssen oder zu einem wichtigen Abendessen eingeladen zu sein. Das Fest hatte nicht länger als eine Stunde gedauert. Er wühlte in seinen Hosentaschen und zog das Jo-Jo heraus, das mit den anderen Sachen Megans vom Krankenhaus in Baganako zurückgeschickt worden war. Jacques ließ sich neben ihn fallen.
»Ist das dein Geschenk?« Benjamin beugte sich vor, um den nagelneuen Radiowecker zu betrachten, den Jacques auf dem Schoß hatte. »Originell … «
»Darf ich dich um einen Gefallen bitten?«
»Klar.«
»Kann ich heute Nacht bei dir pennen?«
»Was ist los?«
Jacques fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und atmete tief ein.
»Maëlle hat dich vor die Tür gesetzt, nicht?«, riet Benjamin.
»Ich wäre seit meiner Rückkehr nicht mehr derselbe.« Jacques nickte. »Sie bräuchte Zeit, um nachzudenken … «
»Ich hatte keine Ahnung, dass es zwischen euch so schlecht läuft.«
»Ich auch nicht.« Er hob eine Schachtel Zigaretten auf, die auf einem Tisch lag.
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