Die Unseligen: Thriller (German Edition)
hier, hinter diesen Mauern, befinden sollte – so nah und doch so unerreichbar. Es war zugleich unwirklich und zu konkret. Er trat die Zigarette aus und wartete, dass irgendetwas passieren würde, dass sich hinter einem der Fenster eine Silhouette abzeichnen würde. Aber nur die Spiegelbilder von Wolken glitten im Wind über die Scheiben.
»Willst du noch lange den Polizisten auf der Lauer spielen? Wir wissen nicht einmal, ob es hier ist.«
»Herrgott noch mal, Jacques! Was erwartest du?! Ich weiß nicht mehr als du … «
Er zündete sich nervös eine neue Zigarette an und biss die Zähne zusammen, um ein jähes Gefühl der Hoffnungslosigkeit zu unterdrücken.
»Ich hätte nicht gedacht, dass das so schnell geht. Ich weiß nicht mehr … Ich … « Er machte die Augen zu. »Mist, ich hab keine Ahnung, was wir tun sollen.«
»Wir sollten ins Hotel zurückkehren und Paris anrufen, um ihnen die Situation zu erklären«, sagte Jacques in aller Ruhe.
»Und wenn sie die Gelder nicht freigeben wollen?«
»Das wissen wir im Moment ja noch gar nicht. Wir können uns in Mutmaßungen ergehen, wenn du willst, aber das ändert nichts an dem Problem.«
Benjamin nickte, war aber unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Sein Blick war auf dieses Gebäude geheftet, in der aberwitzigen Hoffnung, dort eine Bewegung, ein Zeichen, irgendetwas zu entdecken.
»Zweihunderttausend Euro … «, murmelte er vor sich hin, »verdammter Mistkerl. Mit diesem Geld könnte man fast fünfzigtausend Packungen Plumpy’Nut kaufen. Damit könnte man zweitausend Kinder drei Wochen lang am Leben halten.«
»So kannst du nicht rechnen.«
»Doch! Und das weißt du so gut wie ich! Das ist die entscheidende Frage: Ist Megans Leben so viel wert wie das von zweitausend Kindern?«
»Komm, wir fahren zurück ins Hotel.«
»Das können wir nicht, solange wir nicht sicher sind, dass sie sich hier befinden.«
»Warte hier auf mich … «
Jacques rief einem Jungen zu, der gegrillte Maiskolben verkaufte, und ging dann über die Straße zu ihm. Benjamin sah, wie sie miteinander sprachen und Jacques mit dem Finger auf das Haus deutete, ehe er aus seiner Brieftasche einen Geldschein herausnahm und ihn entzweiriss. Der Junge zögerte, wobei er nervös von einem Fuß auf den anderen trat, dann nickte er und streckte die Hand aus. Er pfiff, und sofort lief ein zweiter Junge herbei, um ein Auge auf den Verkaufsstand zu haben. Jacques kam zu Benjamin zurück, und gemeinsam beobachteten sie, wie sich der Straßenverkäufer mit drei in Zeitungspapier eingewickelten Kolben unter dem Arm dem Haus näherte. Der Junge warf einen Blick nach links und nach rechts und klopfte dann an die Tür. Nichts geschah. Er wartete einen Moment, ehe er erneut mit der flachen Hand auf das Holz klopfte. Er trat an ein Fenster heran und drückte das Gesicht an die Scheibe, wobei er die Augen mit der Hand beschattete.
»Mist«, entfuhr es Jacques.
Der Junge rannte wie ein Wilder auf sie zu und ließ die Maiskolben fallen.
»Blut! Da ist überall Blut, Mann!« Mit weit aufgerissenen Augen und ganz außer Atem blieb er stehen. »Ich glaub, da liegt eine Frau, und sie hat Blut auf dem Gesicht! Überall ist Blut, sag ich dir!« Er steckte die Hand in seine Tasche und warf Jacques die Hälfte des Geldscheins hin. »Da, den kannst du behalten, Mann. Ich will keinen Ärger … «
Er rannte Hals über Kopf davon und forderte seinen Kumpel durch eine Handbewegung auf, sich ebenfalls aus dem Staub zu machen.
»Jetzt haben wir keine Wahl mehr«, sagte Benjamin betrübt. »Ich verständige die Polizei.«
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»Chininvergiftung.«
»Welches Medikament?«
»Halfan.«
Der Chefarzt der Notaufnahme eilte mit schnellen Schritten neben der Trage her. Ein Krankenpfleger drückte eine Sauerstoffmaske auf das Gesicht von Naïs, und eine Krankenschwester schob die Trage.
»Das ist über eine Stunde her?«
»Ja«, sagte Megan.
»Wie alt ist sie?«, fragte der Arzt.
Megan wurde unsicher und wandte sich zu Umaru um.
»Drei Jahre«, antwortete dieser.
»Okay.« An den Krankenpfleger gerichtet, sagte er: »Wir bringen sie in den OP .«
Umaru legte seine Hand auf den Arm des Arztes.
»Was machen Sie mit ihr?«
»Die Magenspülung ist gefährlich, vor allem wenn sie das Gift vor über einer Stunde geschluckt hat. Wir werden ihr über eine Magensonde Aktivkohle verabreichen und dann warten, wie sie reagiert. Sind Sie der Vater?«
»Ja.«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, versicherte er mit
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