Die Unseligen: Thriller (German Edition)
seit einer Woche unbedingt mit ihr treffen. Aber sie hatte alle Einladungen ausgeschlagen. Sie hatte einfach nicht genug Zeit für alle.
Sie legte einen Schritt zu.
Bald würde es dunkel sein. Die Lichter in den Büros betonten die durchbrochenen senkrechten Linien. Mit der Feuchtigkeit des Chicago River gesättigte Windstöße peitschten die Gehsteige und veranlassten die Passanten dazu, in den U-Bahn-Schächten oder den von Leuchtreklamen erhellten Geschäften Zuflucht zu suchen: Schallplattenläden, angesagte Galerien und thailändische Restaurants. Ganz im Hintergrund sah man den massiven Bau des Northwestern Memorial Hospital.
Sie traf an ihrem Wohnblock ein, einem massiven alten Bau, der sich über zwanzig Stockwerke erstreckte, mit einer leicht schrägen Fassade aus roten Ziegelsteinen. In den Fluren roch es muffig, die Farbe an den stockfleckigen Wänden der Eingangshalle blätterte ab, der Aufzug war so groß wie ein Stripteasekäfig, aber dem hatte Megan aus zwei Gründen weiter keine Beachtung geschenkt. Der erste war ein pragmatischer: Sie hatte sich für die Wohnung entschieden, die ihrem Arbeitsplatz am nächsten lag, um sich bei jedem Nachtdienst den Stress eines Wettlaufs gegen die Zeit zu ersparen. Der zweite war eher persönlicher Natur: Alles war besser als das gottverlassene Loch, aus dem sie stammte.
Ehe sie den Code für das elektrische Türschloss eintippte, warf sie einen letzten Blick auf die menschenleere Straße und versuchte, sich möglichst viele Bilder einzuprägen, Erinnerungen abzuspeichern, für den Fall, dass sie Heimweh überkommen sollte, einige Tausend Kilometer von hier.
In der Ferne spiegelten sich die Rundumleuchten eines Krankenwagens wie Stroboskopblitze in den Glasscheiben eines Wolkenkratzers. Megan sah, wie das rot-weiße Feuerwerk Richtung Loop raste – hin zu den Mordopfern, den Selbstmördern, den Herzinfarkten, in die Nacht und die Trauer hinein. Sie stand auf den Stufen der Freitreppe und hörte, wie das Echo der Sirenen verhallte. Dissonante Riffs wurden schnell vom Wind erstickt. Ihr Blick glitt sanft über die Fassaden, angelockt von dem verdichteten orangefarbenen Leuchten ganz am Ende der Huron Street, dem zentralen Anziehungspunkt im Umkreis von hundert Metern. Das wie ein Baseballstadion beleuchtete Northwestern Memorial Hospital bestand aus drei gewaltigen Häuserblocks. Von fern glichen die Gebäude einem architektonisch uneinheitlich gestalteten würfelförmigen Komplex, wobei die einzelnen Baukörper durch Verbindungsbrücken verknüpft waren, um auf diese Weise den Transport zwischen den Abteilungen zu erleichtern, die Notaufnahme zu entlasten und ein Übergreifen von Viren zu verhindern, sollte die Stadt von einer Pandemie verwüstet werden – eine Art Behandlungsmaschine mit perfekt geölten Zahnrädern. Als sie die Dreizimmerwohnung im obersten Stock betrat, überkam sie jäh ein starkes Gefühl der Einsamkeit, das sie in der Diele zurückhielt.
Die beigefarbene Raufasertapete, die auf dem Flohmarkt ergatterte bunte Eames-Garderobe, die Kommode aus Holzimitat – alles war an seinem Platz, genauso, wie sie und ihr Mann es gewollt hatten, zu der Zeit, als sie noch zusammenlebten. Zitternd zündete sie sich eine Zigarette an und lehnte sich an die Tür. Sie konnte keinen Schritt mehr machen.
Megan wurde schwindlig, und sie schloss die Augen. Manchmal überkam sie unvermittelt die Schwermut – auf der Straße, im Schlafzimmer, an jedem x-beliebigen Ort außer an ihrem Arbeitsplatz. Hektisch durchwühlte sie ihre Handtasche und nahm ein Jo-Jo heraus. Sie zog die Schlaufe über den Mittelfinger und warf das Spielzeug an der Schnur nach unten, zog es wieder hinauf, warf es wieder nach unten, und diese regelmäßige, hypnotische Bewegung und das reibende Geräusch des Fadens am Holz beruhigten sie.
Das Phantom ihres Exmannes drängte sich ihr auf. Sie sah ihn vor sich, auf dem beigefarbenen Sofa des Wohnzimmers. Es war einige Tage nach ihrer Scheidung, er hatte schließlich mitgenommen, was er behalten wollte, und sie wussten beide, dass dies ihr letztes Gespräch sein würde.
»Was kann ich dir anbieten? Wodka Tonic wie immer?«
»Danke, nichts.«
Als er das kurze Erstaunen in der Miene seiner Exfrau bemerkt hatte, hatte er gelächelt und einen Jeton von der Größe einer Ein-Dollar-Münze, in den die Initialen AA eingestanzt waren, über die Theke rollen lassen.
»Zwei Monate und sechs Tage. Man sollte meinen, dass sich die Menschen
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