Die Unseligen: Thriller (German Edition)
ändern.«
Sie hatten beide geschwiegen, zögernd wie ein altes Liebespaar, wo sie doch allzu viel auf dem Herzen hatten.
Er hatte die Fotorahmen auf den Regalen betrachtet. Keine Bilder. Nur der dunkelviolette Hintergrund und sonst nichts.
»Alle Spuren beseitigt?«
»Zu viele Phantome«, antwortete sie und nahm einen Schluck von ihrer Limonade.
Er hatte seinen an den Ellbogen durchgescheuerten Mantel übergestreift und sich eine Mütze aus grober Wolle, die die Spuren seiner nächtlichen Kneipentouren und Trinkgelage trug, tief ins Gesicht gezogen. Es waren Beweisstücke des Verfalls von James Clifford. Megan unterdrückte einen jähen Anfall von Weinerlichkeit, und ihre Hand verkrampfte sich in dem Bestreben, das Jo-Jo schneller hinauf- und hinunterzubewegen. Sie erinnerte sich, dass diese unförmige Mütze eine Art Talisman gewesen war, der die düsteren Gedanken ihres Ehemanns beschirmt hatte und mit dem er durch die Stadt geirrt war, auf der Suche nach einem Trost, den ihm weder der Schnaps noch die Zeit verschafft hatten. Das Drama, das sie auseinanderbrachte, hatte schließlich über ihre Liebe zu diesem Mann triumphiert. Auf dem Treppenabsatz hätten sie sich beinahe geküsst. Ihr Mann hatte den Aufzugknopf gedrückt und ihr dabei ein Gesicht zugewandt, das von unendlichem Schmerz gezeichnet war.
»Du hast tatsächlich kein Foto von uns aufgehoben? Ich meine: von unserer Familie?«
»Nein«, hatte sie gelogen, während sie die Tür langsam schloss. »Keines.«
Sie zuckte zusammen, als sie ihre eigene Stimme hörte. Die Schnur des Jo-Jos verhedderte sich, wie es immer geschah, wenn Erinnerungen plötzlich ausgewischt wurden.
37
»Ich sollte Sie um diese Uhrzeit nicht reinlassen … «
Megan lächelte den Wachmann traurig an.
»Mittlerweile dürften Sie meine Zeiten doch kennen«, sagte sie, als er Platz machte, um sie durchzulassen.
»Bleiben Sie nicht da stehen, Sie werden nass werden. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee? Bevor … «, der Wachmann war sichtlich verlegen und rang nach Worten, wobei er dem Blick der jungen Frau auswich, »… nun … bevor Sie zu ihr gehen.«
Megan antwortete nicht und betrachtete den Mount-Olivet-Friedhof. Mehr als alles andere fürchtete sie, sich an diesen schnurgeraden Reihen weißer Kreuze, an die unwirklich bronzegrünen Wiesen, die die Wege säumten, an diese so besondere Stille zu gewöhnen. Sie befürchtete, sich wie zu Hause zu fühlen. Denn sie wusste, dass das Grab ihrer Tochter an diesem Tag für sie nur noch ein Granitblock wäre. Stein. Nichts als Stein.
»Okay, ich trinke einen Kaffee«, sagte sie schließlich.
Der Wachmann machte die Gittertür zu und ging vor Megan ins Innere der kleinen Hütte, die ihm als Büro diente. Der Raum war mit einer Kochnische und mit Spielsachen, die aus einer Plastikkiste herausquollen, vollgestopft. Auf einem Foto trug sein ältester Sohn, der auf seinen Schultern saß, stolz die Goldmedaille irgendeines Wettlaufs zur Schau. Megan lächelte, der Sohn durfte noch keine zwölf Jahre alt sein, aber er hatte schon die gleiche Figur wie sein Vater: Mit seiner gedrungenen Gestalt und seinem Stiernacken ließ er schon jene Art von jungem Mann erkennen, dem man nur ungern allein im Dunkeln begegnen würde.
»Erwarten Sie Ihre Kinder denn nicht?«, fragte sie.
»Sie sind bei ihrer Mutter in Cicero … « Er goss den Inhalt einer Kaffeekanne in einen Topf. »Ich sehe sie nur am Wochenende. Der Richter war der Ansicht, ein Friedhof sei nicht der geeignete Ort, um Kinder aufzuziehen … «
Megan setzte sich in die Nähe des kleinen Fensters. Mit der Zeit hatten sie und der Wachmann des Mount-Olivet-Friedhofs sich miteinander angefreundet, und wenn sie ihren Dienst beendete – oftmals lange nach Ende der regulären Besuchszeiten – , ließ er sie unauffällig herein, sodass sie Alison an ihrem Grab gedenken konnte.
»Dabei würde ihnen hier nichts passieren … «, seufzte er und riss ein Zündholz an.
Er setzte sich neben Megan.
»… während dort, wo ihre Mutter wohnt, letzte Woche ein fünfzehnjähriger Junge erstochen wurde.«
»Ja, ich habe davon gehört.«
»Fünfzehn Jahre, unglaublich! In der Zeitung stand, er wäre von der Schule nach Hause gegangen, ohne jemanden anzusprechen, und da wären plötzlich drei Kerle aufgetaucht, um ihm seine Schultasche zu klauen. Was haben die geglaubt? Dass da eine Million Dollar drin wären?«
Der Kaffee im Topf kochte, und der Wachmann stand auf, um ihn in zwei große
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