Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Tassen zu gießen, auf denen von unbeholfener Hand die Schriftzüge »Bester Papa der Welt« und »Ich hab dich lieb, Pa’« aufgemalt waren. Megan musste daran denken, dass ihre Tochter nicht einmal das Alter erreicht hatte, in dem man solche Gegenstände kolorierte.
»Sie haben sechsmal mit Messern auf ihn eingestochen … «, fuhr er fort. »Der Polizei haben sie gesagt, sie hätten die Nerven verloren. Die Nerven verloren … Die ticken nicht mehr richtig. Aber heutzutage gibt es in der Welt nicht mehr viel, was richtig tickt, sag ich Ihnen. Zucker?«
»Danke, nein, nach wie vor nicht.«
»Ich bin echt blöd, ich frage Sie jedes Mal, und dann vergesse ich es. Ich habe irgendwo gelesen, dass Alzheimer so beginnt … Sie als Ärztin, was glauben Sie?«
»Ich bin keine Ärztin.«
Er zuckte mit den Schultern und hielt ihr eine Tasse hin.
»Krankenschwester, Arzt, das ist doch Jacke wie Hose, Sie wissen, wie man Kranke behandelt.«
»Wenn Sie wirklich beunruhigt sind, sollten Sie sich im Krankenhaus untersuchen lassen.«
»Im Krankenhaus … « Er verzog das Gesicht. »So viel, wie das kostet, werde ich warten, bis ich meinen Vornamen vergessen habe, ehe ich ins Krankenhaus gehe.«
Durch das kleine Fenster betrachtete Megan die Kreuze und die Gräber. Sie zog eine Zigarette aus der Schachtel. Der Regen prasselte nicht mehr auf die Dachziegel der Hütte, und die Stille des Friedhofs war mit nichts zu vergleichen. Das Dröhnen Chicagos, der ständige Krach gelangte nur gedämpft bis an den Gitterzaun, die Geräusche der Stadt waren wie in Klammern gesetzt.
Sie atmete eine dünne Rauchfahne aus. Die Stille entspannte ihre Muskeln und dämpfte ihre Ängste. Sie schätzte die Gesellschaft dieses Mannes und diese etwas eigenartige Freundschaft, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte. Außerhalb des Friedhofs hatten sie sich nie getroffen, und vermutlich hätten sie sich nichts zu sagen gehabt, wenn sie sich in einer Bar verabredet hätten. Aber seine Gegenwart tröstete sie, und das war schon mehr, als sie erhoffen konnte.
»Darf ich Sie was fragen?«
Die junge Frau richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Wachmann, der einen Aschenbecher vor sie stellte.
»Ich meine, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber wenn Sie Probleme haben, kann ich Ihnen vielleicht helfen … «
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich weiß nicht … Sie wirken bedrückter als sonst.«
Megan führte die Tasse an ihre Lippen.
»Das ist nett, aber ich habe morgen einfach nur eine lange Reise vor mir.«
»Und Sie haben Angst vorm Fliegen?«
»Nein … «
Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher aus.
»Eher vor dem Ziel.«
Das Grab von Alison Clifford unterschied sich nicht von den anderen. Weder Megan noch ihr Exmann hatten die Kraft besessen, den Grabstein auszusuchen, und so hatten sie diese Wahl, ebenso wie die des Sarges, dem Mitarbeiter des Bestattungsinstituts überlassen.
Sie blieb stehen, ihre Finger umklammerten das Jo-Jo in ihrer Tasche.
»Ich komme mir immer total blöd vor, wenn ich hier stehe. Ich weiß nie, was ich sagen soll … wie lange ich hierbleiben soll … «
Sie zog den Kopf zwischen ihre Schultern und blies ihre Hände an, um sie zu wärmen. Von da, wo sie stand, sah sie das Glitzern der Gebäude auf der öligen, dunklen Oberfläche des Chicago River.
»Eine Zeit lang werde ich dich nicht besuchen können«, fuhr sie mit lauter Stimme fort, »aber das bedeutet nicht, dass ich nicht an dich denken werde.«
Worte an ein Grab zu richten, war ihr immer als ein Zeichen von Senilität erschienen. Bis ihre eigene Tochter in einen Sarg gelegt und in eine Grube hinabgelassen worden war. Da hatten die Worte schließlich die Tränen ersetzt, und sie hatten, auf ungeschickte Weise, jene Leere gefüllt, die die Erinnerungen von der Wirklichkeit der Abwesenheit trennte.
Sie hatte sich nie mit ihrer Tochter unterhalten, denn diese war gestorben, lange bevor sie einen Satz äußern konnte, und im Moment ihres Ablebens war diese Erkenntnis grausamer als das Wissen, dass sie nie mehr diesen Duft von warmer Milch riechen würde, der so typisch für Babys ist, dass sie diesen kleinen Körper nie mehr an ihrer Brust wiegen würde.
Sie würde niemals wissen, was für eine Stimme Alison gehabt hätte.
Sie würde niemals ihre Zweifel, ihre Freuden, ihre Wutanfälle und ihren Kummer kennen.
Es schien ihr, dass ihre Tochter aufgrund ihres frühen Todes, noch bevor sie ihren Empfindungen sprachlichen Ausdruck verleihen konnte,
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