Die Unseligen: Thriller (German Edition)
kontrastlosen weißen Horizont Platz machte. Genau das Gleiche war mit ihrer Ehe geschehen. Ihre Gegenwart und ihre Zukunft hatten sich zunächst in ein dickes Ausrufezeichen, dann in Auslassungspunkte und schließlich in ein leeres Blatt verwandelt. Keine Ideen mehr. Nichts mehr zu schreiben.
39
Der operative Leiter der Zentrale von Médecins Sans Frontières , ein gebürtiger Senegalese, war ebenso beeindruckend wie sympathisch. Er war gute zwei Meter groß, hatte die Figur eines Rugbyspielers, einen Stiernacken und kräftige Pranken, die buchstäblich nicht in der Lage zu sein schienen, ein Skalpell zu halten, ohne es zu zerquetschen. Der Händedruck des Hünen bestätigte den Eindruck. Nur seine sanfte, bedächtige Stimme passte nicht dazu. Er wandte sich in einem perfekten, vollkommen akzentfreien Englisch an sie und sprach mit ihr wie mit einer Gleichgestellten.
»Ein Freund von mir wird Ihr Vorgesetzter sein«, sagte er, während er auf einen freien Stuhl zeigte. »Aber was heißt schon ›Vorgesetzter‹? Sie werden sehen, er ist ein Schatz, und er ist wirklich gut in dem, was er tut. Sobald Sie vor Ort sind, erhalten Sie Ihre Anweisungen von ihm.«
Megan nahm die Informationsunterlagen, die sie im Flugzeug gelesen hatte, aus ihrer Tasche.
»Was die Zielvorgaben anbelangt, sind Sie in Ihrer E-Mail nicht sehr konkret gewesen. Ich würde gern wissen, was genau Sie von mir erwarten.«
»Was wir erwarten?« Er lächelte müde. »Grob gesagt, dass Sie die Leistungsfähigkeit der einzelnen Abteilungen, vor allem aber die der Pädiatrie, verbessern: ihre Effizienz, die Betreuung der Patienten, die Sterilisation der Materialien, die Leichtigkeit des Zugangs zu den Arzneimittelvorräten und so weiter.«
»Ich fürchte, dass meine Ausbildung in Kinderheilkunde dafür nicht ausreichend sein wird … «
Der Senegalese stützte die Ellbogen auf seinen Schreibtisch und atmete tief ein.
»Als ich zu meinem ersten Einsatz aufgebrochen bin – das war unmittelbar vor Beginn meiner Ausbildung zum Facharzt für Chirurgie – , musste ich einen fünfzehnjährigen Kongolesen behandeln, der auf eine Mine getreten war. Er hatte auf dem Weg ins Krankenhaus gut einen Liter Blut verloren und drohte, mir unter den Händen abzukratzen, wenn ich ihn nicht sofort amputierte. Anfangs war ich total nervös, aber dann … Vertrauen Sie mir also, Sie werden hineinfinden.«
Megan hatte den Eindruck, er erzählte diese Anekdote allen Freiwilligen, die, wie sie, auf diesem Stuhl saßen.
»Noch etwas«, fuhr der Hüne fort, während er in den vor ihm aufgestapelten Akten stöberte, » Médecins Sans Frontières würde gern ein Weiterbildungsangebot für die einheimischen Krankenpfleger aufbauen. Es fehlt an einheimischem Personal, und in diesen Regionen weiß man nie, wann die Regierung eines Landes uns rausschmeißt.«
»Ist das schon vorgekommen?«
»Ja, im Niger … «
Er hielt ihr eine Broschüre zu den Ausbildungsprogrammen über kindliche Fehlernährung und die Verteilung der HIV -Kombinationstherapie hin.
»Ich war vor Ort, als Staatspräsident Mamadou Tandja lauthals beteuerte, es gebe in seinem Land keine Unterernährung, während in unseren Armen Kinder starben. Da haben wir uns an die Öffentlichkeit gewandt. Die Folge: Tandja hat uns aufgefordert, unsere Siebensachen zu packen und zu verduften. Seither sind wir lieber vorsichtig.«
Es trat ein kurzes Schweigen ein, als wäre der Senegalese von der Vergangenheit eingeholt worden.
»Das Problem der Unterernährung hat Vorrang«, fuhr er fort. »Alle Mittel, über die wir verfügen, sollten für den Kampf dagegen eingesetzt werden«, sagte er, während er sich ein Glas Wasser einschenkte. »Halten Sie sich nicht mit Diagrammen und Prozentsätzen auf. Die Krankenschwestern, die Sie kennenlernen werden, müssen nicht aufgeklärt werden. Sie brauchen praktische Ratschläge, um allein klarzukommen, für den Fall, dass wir nicht mehr da sind.«
»Ich werde mein Bestes tun.«
Der Hüne stand auf, um eine Aktenmappe zu holen, die er Megan hinhielt.
»Sie landen in Abuja, dort wird Sie ein Fahrer abholen und ins Flüchtlingslager von Damasak bringen. Sie bleiben dort zwei Tage, ehe Sie zum Tschadsee weiterfahren, wo sich die Klinik von Médecins Sans Frontières befindet. Sie werden zusammen mit den übrigen Mitgliedern des Teams untergebracht. Wenn Sie sich über Land bewegen müssen, nehmen Sie niemals mehr als zweihundert Dollar mit. Zwar gab es seit zwei Jahren keine
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