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Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Titel: Die Unseligen: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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glaubten, für sie da sein zu müssen. Ihre Mutter fand immer Vorwände, um sie anzurufen, versuchte, eine Innigkeit herzustellen, die, soweit sich Megan erinnern konnte, nie zwischen ihnen existiert hatte.
    Der Rest des Tages verging rasend schnell. Ein überfüllter Flughafen. Eine weiße, aseptische Welt, die von Strömen abfliegender und ankommender Passagiere durchquert wurde; Tausende individueller Reisewege, sortiert, etikettiert und verteilt über die Oberfläche des Globus.
    Gepäckaufgabe, Passkontrolle, Sicherheitsschleuse. Megan folgte der Bewegung, nicht ganz bei sich, in Gedanken schon anderswo, irgendwo südlich der Sahelzone. Erst im Flugzeug entspannte sie sich, eingelullt von den Sicherheitsanweisungen.
    In der Economy-Klasse, eingequetscht zwischen einem allein reisenden Kind und einem etwa vierzigjährigen Mann im Vertreteranzug, der seine Lexotanil-Tabletten zählte, holte sie die Informationsunterlagen heraus, die ihr Paris zugeschickt hatte, und begann das Programm durchzublättern, das sie erwartete.
    Gleich weit vom Äquator und vom nördlichen Wendekreis entfernt, erstreckte sich die Zone, die von dieser Sektion von Médecins Sans Frontières betreut wurde, von den Grenzen Nigerias und Kameruns bis zum Tschadsee. Dieser See schrumpfte jedes Jahr. Mit besorgniserregender Geschwindigkeit fraß sich der Wüstensand von Norden her immer tiefer in den See vor – Tausende von Quadratkilometern Wasserfläche hatte er schon verschlungen. Der Schari, der Hauptzufluss, schlängelte sich durch die Zentralafrikanische Republik und den Tschad, bevor er sich in den See ergoss. Von der Quelle an wurde ihm Wasser für unterschiedlichste Zwecke entnommen, sodass seine Durchflussmenge in der Trockenzeit dramatisch sank, und nachdem er die Vororte Ndjamenas passiert hatte, war von ihm nur noch ein dünnes erdfarbenes Rinnsal übrig, das langsam dahinplätscherte.
    Sie breitete die Karte aus. Die Einsatzorte von MSF waren mit roten Kreuzen markiert, die über das riesige Gebiet verstreut waren. Die Einsätze der anderen humanitären Hilfsorganisationen waren blau gekennzeichnet.
    Südniger, Westkongo, Südostsudan, Ruanda, Somalia … die Liste war endlos.
    Wie Akupunkturnadeln, die die Schmerzen eines kranken Körpers lindern sollen, waren all diese Missionen an neuralgischen Punkten auf dem Kontinent angesiedelt worden. Aber die junge Krankenschwester erkannte mit beunruhigender Klarheit das ganze Ausmaß des Kampfes, der geführt werden musste, als sie diese Hilfsprojekte auf die Zahl der Einwohner der Region – achthundert Millionen Menschen – bezog.
    Megan faltete die Karte wieder zusammen und steckte sie in ihre Tasche. Die Klimaanlage ließ sie frösteln, und sie wickelte sich in die Decke von Air France ein. In ihrem Gedächtnis suchte sie nach Bildern des Glücks, die ihr helfen könnten, die Schlaflosigkeit durchzustehen. Ihre erste Begegnung mit ihrem Exmann setzte sich in ihrem Kopf fest.
    Sechs Jahre des Zusammenlebens, inniger Verbundenheit und gemeinsamer Zukunftsprojekte.
    Sechs Jahre eingepackt, verschnürt und ausgelöscht.
    Als sie James kennengelernt hatte, hatte er als Trader für Agrarrohstoffe für eine internationale Firma gearbeitet. Damals war James Clifford II . die Verkörperung des amerikanischen Traums, der Yuppie, den sich sämtliche Mütter der zweiundfünfzig Bundesstaaten der USA als Schwiegersohn wünschten: »Harvard« und »Jahrgangsbester« prangten in gotischen Lettern auf seinem Abschlusszeugnis, er hatte Geld, das Gesicht eines Fußballspielers und die Selbstsicherheit eines Mannes, dessen Leben nur ein Stück Torte ist, das bis in alle Ewigkeit immer wieder neu serviert wird. Die ungestüme Umarmung des Chevrolet Camaro seines Vaters mit einem Neuntonner, der in die entgegengesetzte Richtung fuhr, erlaubte ihren individuellen Wegen, sich zu kreuzen. Der Anblick von Clifford senior, der auf einer Trage geschoben wurde, um das Armaturenbrett aus seinem Stirnhirn zu entfernen, war der Elektroschock gewesen, den James brauchte, um zu erkennen, dass seine Existenz nur eine Illusion des Erfolgs war. In der Phase der »Erleuchtung« lernten sich Megan und er vor einem löslichen Kaffee in der Cafeteria des Krankenhauses kennen, verliebten sich und schworen im Stillen, jeder für sich, den anderen nie mehr zu verlassen.
    Eine Schicht Raureif bedeckte das Fenster. Megan betrachtete durch das Plexiglas die Linie des Horizonts, die nach und nach verblasste und einem

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