Die unsicherste aller Tageszeiten
ich nicht aufpasse. Ein fernes, tiefes, regelmäßiges Grollen ist es, der Atem vom Blanken Hans. Hans wie Hannes – was für ein hinterhältiger Zeitgenosse. Wenn ich nicht bald zusehe, dass ich Land gewinne. Mein Herz hämmert längst schon wieder in ängstlicher Aufregung, verwirrend, denn das kenne ich sonst nicht von mir in der Gegenwart der See, nicht einmal der nachtschwarzen, und diesmal sagt mir mein Fluchtinstinkt, dass es wirklich besser wäre, sicherere Gefilde aufzusuchen. Also mache ich kehrt und laufe Richtung Stadt. Die Unruhe allerdings will sich so schnell nicht mehr legen.
Für die nächsten Stunden ziehe ich unberechenbarer als jeder Klabautermann durch die Straßen Wyks. Wind und Regen peitschen mich, meine Klamotten kleben mir nass am Leib, in meinen Augen sammelt sich die salzige Feuchtigkeit in dicken Tropfen. Außer mir ist niemand unterwegs, nur ab und an bellt ein Hund nach mir, wenn ich zu nahe an die beleuchteten Fenster herantreten will, die er bewacht. Öfters bleibe ich auch an Telefonzellen stehen, doch mehr als mich kurze Zeit darin aufzuwärmen tue ich nicht. Für einen Anruf bei Klaus ist es jetzt endgültig viel zu spät, er wird tief und fest schlafen und das Läuten nicht einmal hören. Es ist einsam hier draußen, schrecklich einsam und entsetzlich kalt. Und die Dunkelheit breitet sich aus, die Straßenlaternen sind längst erloschen und in kaum einem der Häuser ist noch jemand wach, brennt Licht. In ein paar Erdgeschosswohnungen, in denen noch nicht Nachtruhe herrscht, spähe ich heimlich durch die Fenster, schaue mir die Menschen an, sehe ihnen zu, wie sie sich unterhalten, lesen oder vor dem Fernseher sitzen oder sich bettfertig machen, immer halb hoffend, halb bangend, ich möge entdeckt werden. Und bei aller Sehnsucht, man möge mich sehen, mich erkennen, Mitleid mit mir haben und mich zu sich hinein ins Warme, Trockene bitten, immer auch beschämt, so tief gesunken zu sein, so etwas wie das hier nötig zu haben.
Einmal sind Klaus und ich bei einem unserer Tagesspaziergänge in einen derart heftigen Wolkenbruch geraten, dass wir binnen Sekunden total durchnässt waren und Schutz in einem Hauseingang suchten, um in der Sintflut nicht wenigstens auch noch zu ertrinken. Da öffnete sich plötzlich die Tür. Zwei alte Damen, Touristinnen aus Bayern und seit ungefähr hundert Jahren die besten Freundinnen, die alles zusammen unternahmen, zumindest wieder seit die Kinder aus dem Haus und ihre Ehemänner gestorben waren, ließen uns ein in ihre gute Stube, gaben uns Handtücher zum Abtrocknen und Friesentee mit Schuss zum Aufwärmen und Sanddornplätzchen einfach nur so. Sie hießen Edith und Marianne und hatten wohl schon alles gesehen im Leben, auf jeden Fall erschütterte sie die Tatsache, ein Männerpaar im Haus zu haben, noch dazu eins, das einen so großen Altersunterschied aufwies, nicht im Geringsten. Im Gegenteil, es schien sie nur umso lebhafter werden zu lassen. Draußen war es schon lange wieder trocken, da saßen wir immer noch bei ihnen auf dem Feriensofa und hörten uns ihre Anekdoten an, die sie kichernd und glucksend wie zwei alte Hennen abends im Stall auf der Stange zum Besten gaben.
Das war alles so spontan geschehen, aus einer gutmütigen Laune des Augenblicks heraus, wie man es niemals planen, sich nicht einmal wünschen könnte. In dieser Nacht aber würde ich nichts dagegen haben, wenn mir etwas Ähnliches widerführe. Es geschieht natürlich nichts, stattdessen sinke ich noch tiefer, bis ich wirklich ganz, ganz tief unten angekommen bin.
Ich finde nirgendwo Einlass in eines Unbekannten heimeliges und gut beheiztes Wohnzimmer, wo ich mich aufwärmen darf, während ich mit Heißgetränken und Gebäck und lustigen Geschichten versorgt werde. Ich ende ganz am anderen Ende der Stadt vor dem Fenster eines dieser hässlichen, billig hochgezogenen Apartmenthäuser, wie Touristen sie wohl besonders lieben, als Spanner und versuche, einen Beischlaf beobachtend, mir einen runterzuholen. Wie ich dahingekommen bin, weiß ich nicht mehr, ich bin einfach immer nur gelaufen, gelaufen und gelaufen und hab hie und da einen Blick in fremde Behausungen riskiert. Hab ich nichts Interessantes gesehen, bin ich gleich wieder weiter, und darüber habe ich noch mehr von meinem Zeit- und Orientierungssinn verloren. Ich war schon längst ein schlotterndes, kurz vor der Lungenentzündung stehendes Wrack, als ich plötzlich dieses Haus hier erblicke, dessen Belegschaft schon zu
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