Die unsicherste aller Tageszeiten
war jetzt aber ebenso auf seine wirkliche Größe erodiert wie die Romantik unseres Zusammenseins – glitt mein Blick über eine Tapete, die von vielen bunt verblichenen Rennautos geziert wurde, dem Traum eines in die Jahre gekommenen kleinen Jungen. Einen schmalen Schreibtisch gab es unter dem Fenster, abgeräumt bis auf eine alte Farbdose, in der eine Handvoll ausgetrockneter Filzstifte und Kugelschreiber noch auf ihre ehemalige Funktion als Federhalter hinwiesen. Vor dem Tisch stand ein hölzerner Klappstuhl; Karsten hatte unsere, über das ganze Haus verstreute Kleidung eingesammelt und ordentlich darüber drapiert. Des Weiteren gab es einen Kleiderschrank, wie alle anderen Möbel in diesem Zimmer aus billigem, unansehnlichem Kieferfurnier, hoch und schmal und mit zwei sorgfältig geschlossenen Schiebetüren versehen, und zwei dünne Regale. In einem standen ein paar vergilbte Comicalben, das andere war voll mit Tennispokalen und -medaillen in Gold, Silber und Bronze und trotzdem alle gleich aussehend, nämlich gekrönt oder geprägt mit einem stilisierten Tennisspieler mitsamt Schläger und Ball, eingefroren inmitten der Aufschlagsbewegung. Ich sollte wohl besser dort bei meinen Brüdern stehen, dachte ich und wäre beinahe richtig bitter geworden, wenn mein Blick nicht gleich darauf auf ein nur DIN A4-großes Poster von John McEnroe gefallen wäre und mich der wie ein Schutzengel herbeieilende Sarkasmus ergriffen und aus dem erstickenden Sumpf meiner Verzweiflung gezogen hätte.
Da hing wirklich ein Bild von John McEnroe. Ausgerechnet John McEnroe. Hier. In diesem Haus, in diesem Zimmer. Von diesem Mann in meinem Rücken. John McEnroe – hat es denn jemals eine draufgängerische, rotznäsigere Krawallschachtel auf dem Tennisplatz gegeben als ihn? Und den hatte sich der Junge zum Idol erwählt, aus dem jetzt dieser Karsten geworden war? Das nennt man dann wohl Ironie des Schicksals. Du träumst von Aufsässigkeit, von Regelverletzung? Du würdest gern dem Establishment ins Gesicht lachen und trotzdem von allen geliebt sein? Ausgerechnet du, Karsten? Na, ich werde dir zeigen, wie das geht. Du sollst dein blaues Wunder erleben!
Während also die Zeiger der Weltuhr sich durch diese lange, finstere Nacht schleppten, schmiedete ich meinen Plan, meinen Rachefeldzug. Ich würde mich rächen, sowohl für Karstens Verweigerung als auch für die Dusche, die er ganz alleine und ohne mich genommen hatte, für diese verräterische, zurückweisende Sauberkeit. Ich würde ihn besudeln, ihn schmutzig machen und ihn dabei eine solche Freude erleben lassen, dass er sich von diesem überwältigenden Glück sein Lebtag nicht mehr erholen würde. Bis an sein Lebensende sollte er von dem Verlangen nach einer Wiederholung dieses Gefühls und seiner ängstlichen Selbstentsagung ganz zerrissen sein. Und das Schönste daran war, ich würde mich nicht einmal märtyrerhaft dafür opfern müssen, sondern ebenfalls auf meine Kosten kommen. Außerdem zog ich es für eine geraume Weile in Erwägung, ihm einen so fetten und durch nichts mehr zu verdeckenden Knutschfleck am Hals zu verpassen, dass es wie ein Kainsmal brennen und seine Ehe vielleicht nicht beenden, aber in heftigste Turbulenzen stürzen würde – wenn seine Frau es denn überhaupt sehen wollte und keine Hure ihrer eigenen Selbstverleugnung war. Ich verwarf den Plan wegen seiner zu ungewissen Aussichten auf Erfolg.
Ich fing an, Karsten zu hassen, und allein deshalb stand ich diese Nacht durch, an ihn gefesselt, Stunde um Stunde immer auf derselben Seite liegend, von seinem Arm quer über meiner Brust wie von einem Gurt mit dem Rücken gegen seinen Oberkörper fixiert, gegen meinen Willen.
Zeitweilig kam ich mir vor wie meine eigene Oma gegen Ende ihres Lebens, als aus ihren gelegentlichen Anfällen von Unzurechnungsfähigkeit eine beinahe nicht mehr enden wollende Phase völliger Weichheit in der Birne geworden war, in der sie schrie und zuckte, spuckte und um sich schlug und panisch war, weil sie unbedingt rechtzeitig zu Hause sein müsse, um, wahlweise, nicht von ihrem Vater oder ihrem Mann, der in dieser Geschichte bereits genannte Opa Heinrich, für ihre Bummelei geschlagen zu werden. Aber auch dieses Trauma legte eben immer mal wieder eine Pause ein, ließ ihr Luft, kurz zur Besinnung zu kommen, und, eine weitere Bosheit, sie erkennen, wohin es sie gebracht hatte, nämlich in einen Zustand immerwährender Unfreiheit, gefesselt entweder an einen Rollstuhl oder an ihr
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