Die unsicherste aller Tageszeiten
Gehirnzellen zu komprimieren, und als es ihm nicht gelingen will, da greift er sich sein Bier, wirft meinem Spiegelbild einen bösen Blick zu und zischt: »Arschloch.«
»Selber Arschloch«, ruf ich ihm nach. Hinter ihm fällt die Tür automatisch zu. »Vielleicht sollte ich für den Rest des Tages öffentliche Toiletten meiden«, sage ich mir ins Spiegelgesicht, »dafür bin ich heute absolut nicht in der rechten Stimmung.«
Ein dumpfes Dröhnen fährt auf einmal durch den metallischen Schiffsrumpf, gefolgt von einem anhaltenden Vibrieren: Die Motoren sind gestartet worden, wir legen ab zur Überfahrt nach Föhr. Endlich. Ich halte meinen Schal hoch ins kalte Neonlicht, um mir das Ergebnis meiner Reinigungsbemühungen anzusehen – und sofort vergeht der Anflug von Freude wie ein Funke im Wind. Er ist zwar leidlich sauber, aber klatschnass. So kann ich ihn mir doch unmöglich um den Hals binden. Damit hole ich mir ohne Frage eine Erkältung, aus der eine Lungenentzündung wird, eine Pneumocystis carinii, oder wie auch immer das Ding da heißt, und dann wird mein längst vom Virus untergrabenes Immunsystem endgültig zusammenbrechen und ich elendig krepieren. Ich werde keine Luft mehr bekommen, jeder Atemzug wird mit grausamem Schmerz verbunden sein. Man wird mich künstlich beatmen müssen, damit ich überhaupt noch Luft bekomme. Das wird mich noch weiter schwächen, Kraft kosten, die ich dann längst nicht mehr habe. So werde ich leichte Beute für noch ganz andere, mindestens ebenso höllische, wenn nicht gar noch viel höllischere Kreaturen von der Kehrseite der Schöpfung. Toxoplasmose. Ja, Toxoplasmose, so heißt sie doch, diese Krankheit, die irgendwann das Gehirn befällt und es in Matsch verwandelt – und die einem dann auch noch das Augenlicht raubt. Bevor ich sterbe, werde ich erblinden! Ich werde nichts mehr sehen können, keine Bilder, und keine Möglichkeit mehr haben, den Schrecken, der in mir wütet, aus mir herauszureißen und auf Leinwand zu bannen. Mein Körper und mein Geist werden sich in einen Sarkophag für all diese Albträume verwandeln, und derart kontaminiert werde ich in die Grube fahren, als Sondermüll.
Und der Einzige, der daraus dann noch Profit schlagen würde, wäre mein Galerist.
»Scheiße!«, schimpfe ich. »Scheiße! Scheiße! Scheiße! Das kann doch nicht angehen. Warum passiert mir so was? Mein schöner Schal!«
Ich hätte wohl zu einem echten dramatischen oder eher tragikomischen Monolog angesetzt, wenn in diesem Moment nicht hinter mir die Tür aufgeschwungen, ein älterer Herr hereingekommen und direkt zu den Pissoirs geschlurft wäre. Das bringt mich wieder leidlich zur Besinnung. Eine wütende Besinnung, wütend, weil hilflos.
Traurig halte ich meinen Lieblingsschal in der Hand, mein winterliches Markenzeichen, der in so manchem Artikel über mich Erwähnung gefunden hat als etwas, wodurch ich mich optisch besonders auszeichnen würde, als Künstler eben. Jetzt ist er ruiniert. Das tut weh. Dass es so weit kommen musste, tut weh. Nein, mein lieber schöner Schal ist nicht mehr zu retten, wohl oder übel muss ich mich dieser Wahrheit stellen. »Scheiße«, flüstere ich noch einmal zum Abschied, dann stopfe ich das endlos lange Stück Webstoff in den Mülleimer. Das heißt auch, dass ich jetzt einen Weg finden muss, wie sich die ungeschützte Blöße meines Halses wieder bedecken lässt, um mir eben keine Lungenentzündung und alles andere zu holen. Und ich muss schnell handeln, diese Witterung ist so gefährlich.
Zum Glück gibt es an Bord einer jeden Fähre einen kleinen Shop, der noch auf dem Wasser versucht, den blöden Touristen seinen Souvenirramsch anzudrehen. Da wir längst fahren, hat er auch schon auf. Ich gehe hinein und suche ihn nach Schals ab. Die führen sie natürlich nicht, nur Tücher, Halstücher. Ich kaufe kurz entschlossen ein dunkelgrünes, bitte die Frau an der Kasse, gleich das Preisschild abzuschneiden und wickle mir das Teil dann auf der Stelle um. Sofort fühle ich mich besser, abgesichert. Jetzt endlich kann ich mir einen Platz zum Ausruhen suchen und die Überfahrt genießen.
Das Deck draußen kommt natürlich nicht infrage, noch mehr Nieselregen und Wind verkrafte ich gerade einfach nicht. Außerdem fühle ich mich schon nach dem Kotzen allein wie gerädert – es gibt definitiv nichts Anstrengenderes für den Körper, als den Mageninhalt zum falschen Ende wieder rauszupumpen – und dazu dann noch die schmerzvolle Erinnerung an mein
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