Die unsicherste aller Tageszeiten
Magensäure, als sie mit der warmen Heizungsluft der Toilette in Berührung kommt. Der Geruch steigt mir in die Nase, gelangt über die Atemwege bis tief zurück in mein Körperinneres und klopft ein weiteres Mal an meinem Magen an, der sofort seine Schleusen öffnen und den nächsten Schwall Kotze nach oben schicken will. Mein Magen aber ist leer; alles, was in ihm gewesen ist, tropft jetzt draußen vom Deich ins Meer. So bleibt mir wieder nur, auch das nicht zum ersten Mal heute, dieses widerliche trockene Würgen, das den Hals malträtiert und einem Tränen in die Augen treibt und ansonsten auf eine gewisse Weise unbefriedigend folgenlos bleibt. Ich klammere mich am Waschtisch fest, bis der Anfall vorüber ist.
Danach reibe ich mir die Augen trocken, versuche ich, wieder einen klaren Blick zu bekommen, für mich, für meine Umgebung, für das, was ich hier tue, und habe trotzdem das Gefühl, nichts sehen, mich selbst nicht mehr begreifen zu können. Ich starre in den Spiegel wie ein Vampir auf der Suche nach seinem nicht vorhandenen Spiegelbild. Da zerreißt ein richtig lauter Furz, von der Kloschüssel wie ein Schalltrichter noch verstärkt, die Stille, gefolgt von einem sich selbst Anerkennung zollenden »Hehehe«. Ich fahre erschrocken zusammen. Schwein, altes Schwein! Aber jetzt ist immerhin mein Spiegelbild zurück, und ohne ein weiteres Zögern fange ich an, es zu säubern.
Ich wickle mir den Schal vom Hals und lege ihn neben mich auf den Waschtisch, danach ziehe ich auch meine Jacke aus und klemme sie mir zwischen die Beine, und zwar so, dass die mit Spritzern von Erbrochenem übersäten Unterärmel vor meinen Beinen herabhängen und nicht mit meiner Hose in Berührung kommen. Als Nächstes klatsche ich mir eine Handvoll kaltes Wasser nach der nächsten ins Gesicht, bis sich die bleiche Kälte darin in rote Wärme verwandelt. Das belebt, jetzt sehe ich zumindest nicht mehr aus wie ein Toter, sondern nur noch wie ein Sterbender. Unter den gegebenen Umständen ist das als Fortschritt zu betrachten. Ich rubble mir die zur Visage geronnene Verelendung trocken und mache mich dann gleich daran, erst meine Jackenärmel zu reinigen, bevor ich mich an den Schal heranwage. Die Ärmel lassen sich auch relativ leicht säubern, ein paar Tropfen Wasser und ein bisschen Reiben, schon ist es erledigt. Der Schal jedoch ist ein anderes Problem, der hat richtig was abbekommen. Allein schon in sein feuchtes Gewebe fassen zu müssen, erfüllt mich mit so großem Widerwillen, dass ich ihn eigentlich sofort in die Tonne treten möchte. Wozu ist er denn jetzt noch von Nutzen? So kann ich ihn mir doch nicht mehr umbinden! Wie kann ich ohne meinen geliebten Schal sein? Ich kann nicht ohne meinen geliebten Schal sein! Ich drehe den Wasserhahn auf heiß und halte den bunten Stoff unter den Strahl.
In diesem Moment rauscht die Spülung los, ein fröhliches Pfeifen ertönt, das Schloss der Klokabinentür klickt auf, und ich höre Schritte hinter mir, die sich mir nähern. Für einen wirren Moment befürchte ich, es würde Hannes sein, der mich verfolgt und gefunden hat, und eine Gänsehaut überzieht meinen gesamten Körper. Dann sehe ich, es ist ein jüngerer Mann, so ungefähr in meinem Alter. Er tritt neben mich ans andere Waschbecken. Er trägt eine schwarze Lederhose und eine offene Jeansjacke, unter der ein hässlicher Norwegerpullover sichtbar wird, sein Haar ist von schmutzig blonder Farbe und könnte mal wieder einen neuen Schnitt gebrauchen, auf seiner Oberlippe sitzt ein filziger Schnurrbart. Um sich die Hände waschen zu können, was er ja immerhin vorhat, muss er erst mal seine Bierdose abstellen. Durch den Spiegel starrt mich dieser impertinente Mensch unverwandt an, während er sich die Hände einseift, abspült und abtrocknet. Ich versuche, nicht zurück zu starren. Sobald er damit fertig ist und sich zu gehen anschickt, wird er etwas sagen, ganz sicher. Noch neben mir stehend, nickt er plötzlich so etwas wie anerkennend und macht eine gewichtige Miene:
»Mann, du siehst aus, als hättest du auf ’ner Beerdigung zu viel gefeiert.« Er lacht über seinen eigenen Witz am lautesten.
»Und du siehst aus, als wäre es die Beerdigung deines Stilberaters gewesen.« Ich wende mich wieder meinem Waschen zu, zufrieden, dass mir wenigstens noch meine Schlagfertigkeit geblieben ist.
Nur hat die Dumpfbacke leider nichts begriffen. Er runzelt kurz die Stirn, versucht ganz offensichtlich, die gähnende Leere dahinter zu
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