Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Gott!«, rief sie. »Unglaublich. Das hat sie getan?«
»› Mein Mund schmeckt noch nach Dir. Meine Hände sind von Dir erfüllt. Dein Geruch ist überall in meinem Haus.‹ « Andras nahm einen Brief vom Stapel und warf ihn ihr zu. »Oder dieser hier: › Wenn es Dich nicht gäbe, wäre mein Leben Dunkelheit .‹ Oder dieser: › Die Gedanken an letzte Nacht haben mir durch diesen schrecklichen Tag geholfen. Wann wirst Du wieder zu mir kommen?‹ Und dann dieser, erst zwei Wochen alt: ›… im Hotel St. Lazare, wo ich auf Dich warte. ‹«
»Andras, bitte …«
»Fahr zur Hölle, Klara, fahr zur Hölle! Raus aus meinem Zimmer! Ich will dich nicht mehr sehen!«
»Das ist alles Vergangenheit«, sagte sie. »Ich konnte es nicht mehr. Ich habe ihn nie geliebt.«
»Du warst elf Jahre mit ihm zusammen! Du hast dreimal die Woche mit ihm geschlafen. Du hast zwei andere Liebhaber für ihn verlassen. Du hast dir von ihm eine Wohnung und ein Tanzstudio kaufen lassen. Und du willst ihn nie geliebt haben? Selbst wenn das stimmt, soll ich mich deshalb etwa besser fühlen?«
»Ich habe es dir gesagt«, antwortete sie, die Stimme dünn vor Schmerz. »Ich habe dir gesagt, dass du nicht alles über mich wissen willst.«
Er ertrug kein weiteres Wort von ihr. Er war erschöpft, hungrig und leer, sein Kopf war ein verschmorter Topf, dessen Inhalt völlig verbrannt war. Fast war es ihm egal, ob immer noch etwas zwischen Klara und Novak lief, ob ihre letzte Trennung endgültig oder nur eine von vielen Unterbrechungen war. Die Vorstellung, dass sie mit diesem Mann, Zoltán Novak, zusammen gewesen war, mit diesem widerwärtigen Schnäuzer – dass er seine Hände auf ihren Körper gelegt hatte, auf das Gebiet, das Andras als seines angesehen hatte, das aber natürlich nur Klara gehörte und mit dem sie tun konnte, was sie wollte –, das konnte er nicht ertragen. Und dann all die anderen – der Tänzer, der Schriftsteller – und davor hatte es zweifelsohne weitere gegeben. Sie alle schienen nun vor ihm aufzuerstehen, die Legion ihrer ehemaligen Geliebten, die Männer, die Klara vor ihm gehabt hatte. Sie bevölkerten das Zimmer. Andras sah sie in ihren lächerlichen Ballettkostümen, ihren teuren Mänteln und dekorierten Militärjacken, mit ihren schicken oder wirren Frisuren, mit verstaubten oder glänzenden Schuhen, mit stolzen oder niedergeschlagenen Schultern, mit ihrem Anstand, ihrer Befangenheit, ihren unterschiedlich geformten Brillen, ihrem Geruch nach Leder, nach Rasierseife, Macassaröl und schlichter männlicher Begierde. Klara Morgenstern: Das war es, was sie alle gemeinsam hatten. Trotz der Mahnung von Madame Gérard hatte er sich in ihrem Leben für einzigartig gehalten, doch in Wahrheit war er ein Fußsoldat in der Armee ihrer Liebhaber, und wenn er fiel, würde es andere geben, die ihn ersetzten, und danach wieder andere. Es war zu viel. Er zog sich die Decke über die Schulter und legte einen Arm über die Augen. Erneut sprach sie seinen Namen mit ihrer leisen, vertrauten Stimme. Andras verharrte reglos, und sie wiederholte ihn. Er gab keinen Laut von sich. Nach einer Weile hörte er, wie sie aufstand und ihren Mantel anzog. Und dann wurde die Tür geöffnet und geschlossen. Auf der anderen Seite der Wand begann ein neues Nachbarpärchen sich lautstark zu lieben. Die Frau schrie in atemlosem Alt, der Mann brummte in seinem Bass. Andras drückte das Gesicht ins Kissen, außer sich vor Schmerz, dachte an nichts und wünschte bei Gott, er wäre tot.
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16.
Das Steinhäuschen
AM NÄCHSTEN MORGEN WAR IHM schwindelig vor Fieber. Die Hitze sickerte aus ihm heraus und durchtränkte das Bett; dann wieder zitterte er vor Kälte unter allen Decken, die er besaß, in seiner Jacke, seinem Mantel und drei Wollpullovern. Er konnte nicht essen, konnte nicht zur Arbeit, nicht zum Unterricht gehen. Als er Durst bekam, trank er den kalten Teerest direkt aus dem Kessel. Als er pinkeln musste, nahm er den Nachttopf unter dem Bett. Als Polaner am Morgen des zweiten Tages nach ihm schaute, hatte Andras nicht die Kraft, ihm zu sagen, er solle gehen, obwohl er einfach allein sein wollte. Jetzt war es sein Freund, der die Rolle des Krankenpflegers übernahm; er tat es, als habe er sein Leben lang nichts anderes getan. Er sorgte dafür, dass Andras aufstand und sich wusch. Er leerte den Nachttopf, wechselte Andras’ Bettwäsche. Er kochte Wasser und brühte starken Tee; dann schickte er die Concierge Suppe holen und zwang
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