Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
wurden sie von einem Gewitter überrascht, das einen heftigen Regenguss auf den Wagen niederprasseln ließ, bevor sie das Dach schließen konnten; bei der Weiterfahrt beschlug die Windschutzscheibe so stark, dass sie anhalten und das Gewitter vorbeiziehen lassen mussten. Die Sonne ging bereits unter, als sie nach einer Fahrt durch fünfzig Kilometer Olivenhain eine Anhöhe erklommen und langsam zum Rand der Erde hinabrollten. So jedenfalls erschien es Andras, der das Meer noch nie zuvor gesehen hatte. Als sie näher kamen, wurde es zu einer weiten Fläche flüssigen Metalls, eine hocherhitzte Endlosigkeit geschmolzener Bronze. Gleichzeitig wurde die Luft kühler, und die Gräser am Straßenrand duckten sich im auffrischenden Wind. Gerade als die rote Rhombe der Sonne mit dem Horizont verschmolz, erreichten sie das Ufer. Klara hielt mit dem Wagen an einem leeren Strandabschnitt und stellte den Motor aus. Am Rande des Wassers: stampfendes Brüllen und sich überschlagende Gischt. Ohne ein Wort stiegen sie aus und gingen auf den wilden weißen Saum zu.
Andras krempelte seine Hose um und watete ins Wasser. Als die nächste Welle heranrollte, rutschte der Boden unter seinen Füßen fort, und er musste nach Klaras Arm greifen, um nicht hinzufallen. Er kannte das Gefühl, diesen mächtigen, beängstigenden Sog der Gezeiten: Es war Klara, ihre Anziehungskraft auf ihn, das Unentrinnbare in seinem Leben. Sie lachte und kniete sich in die Wellen, ließ sie über ihren Körper hinwegspülen, ihre Bluse wurde durchsichtig; als Klara aufstand, war ihr Rock mit Seetang verziert. Am liebsten hätte Andras sie gleich hier und jetzt im Wasser geliebt, doch sie rannte über den Strand zurück zum Wagen und rief ihn zu sich.
Nachdem sie durch die Stadt mit ihren weißen Hotels und dem glitzernden Meeresbogen gefahren waren, nahmen sie eine derart holprige, tief gefurchte Straße, dass der Renault fast von unten aufgeschlitzt wurde. Am Ende stand inmitten von Stechginster ein steinernes Landhaus in einem winzigen Garten. Der Schlüssel lag in einem Vogelnest über der Tür. Sie schleppten ihre Koffer hinein und fielen aufs Bett, zu erschöpft, um an Sex, Essensvorbereitungen oder irgendetwas anderes als Schlaf zu denken. Als sie erwachten, herrschte eine samtene Dunkelheit. Sie entzündeten Petroleumlampen, aßen den Käse und das Brot, die für das Frühstück am nächsten Morgen bestimmt gewesen waren. Ein langsam aufziehender Nebel legte sich vor die Sterne. Klara hatte ihr Nachthemd vergessen. Andras entdeckte, dass er allergisch auf eine Pflanze im Garten reagierte; seine Augen brannten, er nieste ohne Unterlass. In der schlaflosen Nacht lauschten sie der Tür, die in ihrem Rahmen klapperte, dem Wind, der zwischen Fensterrahmen und Fensterbrett pfiff, dem endlosen Nörgeln und Krächzen nächtlicher Insekten. Als Andras im grauen Dunst des frühen Morgens erwachte, war sein erster Gedanke, sie könnten ja einfach ins Auto steigen und nach Paris zurückkehren, wenn sie wollten. Doch neben ihm lag Klara mit salzig riechendem Haar; sie waren in Nizza, und er hatte das Mittelmeer gesehen. Andras ging nach draußen und malte einen großen Bogen Urin in die Luft. Zurück im Haus drückte er sich an Klara und fiel in den tiefsten Schlaf der ganzen Nacht, und als er zum zweiten Mal erwachte, lag ein Quader heißen Sonnenlichts bei ihm im Bett, wo zuvor Klara gewesen war. Gott, war er hungrig; Andras hatte das Gefühl, seit Tagen nichts mehr gegessen zu haben. Von draußen hörte er das Schnappen einer Gartenschere. Ohne sich die Mühe zu machen, ein Hemd, eine Hose oder auch nur eine Unterhose anzuziehen, ging er nach draußen, wo Klara ein Büschel großer Blumen abschnitt, die wie kleine Häkeldeckchen aussahen.
»Wilde Möhre«, sagte sie. »Deshalb musstest du in der Nacht niesen.« Sie trug ein ärmelloses rotes Baumwollkleid und einen Strohhut; ihre Arme glühten golden im Sonnenlicht. Sie wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn und betrachtete Andras in der Tür. »Au naturel«, bemerkte sie.
Andras machte aus seiner Hand ein Feigenblatt.
»Ich glaube, ich bin fertig mit der Gartenarbeit«, sagte Klara lächelnd.
Er ging zurück ins Bett, das in einer Fensternische stand, von der aus man ein Stück des Mittelmeers sehen konnte. Eine Ewigkeit verging, ehe Klara hereinkam und sich die Hände wusch. Andras hatte vergessen, wie hungrig er gewesen war, als er zum ersten Mal aufwachte. Er hatte alles andere in der Welt
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