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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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vergessen. Klara zog ihre Schuhe aus und kletterte aufs Bett, beugte sich über ihn. Ihr dunkles Haar glühte im Sonnenlicht, ihr Atem war süß: Sie hatte im Garten Erdbeeren genascht. Der rote Schleier ihres Kleides fiel ihm über die Augen.
    Draußen wagten sich drei Zwergziegen aus dem Ginster und fraßen all die abgeschnittenen Pflanzen, einen Großteil des jungen Kopfsalats, ein leeres Zündholzheftchen aus Pappe und ein vergessenes Taschentuch von Klara. Sie statteten diesem Häuschen gerne einen Besuch ab; im Garten tauchten oft spannende, unbekannte Dinge auf. Als sie an den Reifen des Renaults schnupperten, spitzten sie die Ohren: Aus dem Haus ertönten zwei Stimmen, die aufschrien, mehrmals.
    Tief unter dem Landhaus lag lautlos die Stadt Nizza mit ihren blendend weißen Stränden. In Nizza konnte man im wogenden Meer schwimmen. Man konnte in einem Strandcafé essen. Man konnte in einem Liegestuhl am Wasser schlafen oder durch die Arkaden eines Hotels schlendern. Für zehn Centimes konnte man einen Film sehen, der an die leere Wand eines Lagerhauses geworfen wurde. Auf einem überdachten Blumenmarkt konnte man Arme voller Rosen und Nelken kaufen. Man konnte die Ruinen der römischen Bäder in Cemenelum besichtigen und auf einem Berg über dem Hafen picknicken. Man konnte Zeichenmaterial für die Hälfte des Geldes kaufen, das in Paris verlangt wurde. Andras erstand ein Skizzenbuch und zwölf gute Stifte mit Minen von unterschiedlicher Härte. Wenn Klara nachmittags Ballettübungen machte, zeichnete er. Er begann mit dem Landhaus, bis er jeden Stein und jeden Winkel kannte. Dann riss er das Haus in Gedanken ab und begann das Gebäude zu planen, das er mit Klara auf diesem Grundstück bauen könnte. Das Gelände fiel leicht ab; das Haus hätte zwei Stockwerke, eines von vorne unsichtbar. Die Dachlinie verlief nah am Hang, auf dem Dach läge Erde; darin würden sie Lavendel pflanzen, schwer und süß. Andras würde das Haus aus grob geschlagenem Kalkstein bauen. Er würde die für seine Professoren typische strenge Geometrie aufgeben und das Haus wie einen vom Wind erodierten Felsvorsprung an den Hang bauen. Auf der Meeresseite würde er Glasschiebetüren in den Kalkstein setzen. Es gäbe einen Trainingsraum für Klara. Es gäbe ein Atelier für ihn selbst. Es gäbe ein Esszimmer und ein Gästezimmer und Zimmer für die Kinder, die sie vielleicht hätten. Hinter dem Haus wäre ein mit Platten gepflasterter Bereich, groß genug für einen Esstisch mit Stühlen. Sie hätten einen terrassierten Garten, wo sie Gurken, Tomaten und Kräuter, Kürbisse und Melonen anpflanzen würden; sie hätten eine Pergola für wilden Wein. Andras wagte nicht einmal zu schätzen, wie viel es kosten würde, ein Grundstück wie dieses zu kaufen oder das von ihm geplante Haus zu verwirklichen; er mied die Überlegung, ob das Bauamt von Nizza es überhaupt genehmigen würde. Das Haus existierte nicht in einer Wirklichkeit, in der es Geld und Flächennutzungspläne gab. Es war ein reines Phantom, das immer deutlicher zutage trat, je länger sie blieben. Wenn Andras tagsüber den zugewucherten Rand des Gartens abschritt, entwarf er jene vom Meer beleuchteten Räume; nachts lag er wach neben Klara und flieste die Veranda oder terrassierte den Hang, um dort einen Garten anlegen zu können. Doch seine Zeichnungen zeigte er Klara nicht, erzählte ihr auch nicht, was er in der Zeit tat, wenn sie ihre Übungen machte. Irgendetwas an dem Projekt ließ ihn vorsichtig werden, löste seinen Selbstschutz aus; vielleicht war es die gewaltige Kluft zwischen der harmonischen Beständigkeit, von der das Haus kündete, und der komplizierten Unsicherheit ihrer beider Leben.
    Im Landhaus lebten sie zum ersten Mal wie Mann und Frau. Klara kaufte Lebensmittel im Dorf, sie kochten gemeinsam; Andras unterhielt sich mit ihr über seine Pläne für das nächste Jahr, erzählte, dass er möglicherweise als Praktikant im Architekturbüro arbeiten könne, in dem auch Pierre Vago angestellt war. Sie weihte ihn in ihre Pläne ein, einen Hilfslehrer einzustellen, vielleicht einen jungen Tänzer aus dem Ausland. Klara wollte für jemanden tun, was Novak und Forestier für Andras getan hatten. Die beiden redeten, wenn sie die Straße entlangbummelten, die in die Stadt führte, sie redeten nach Sonnenuntergang im dunklen Garten, auf Holzstühlen, die sie aus dem Haus geholt hatten. Sie badeten gemeinsam in einer Zinkwanne mitten im Landhaus. Sie stellten Gemüse und

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