Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
schüttelte den Kopf. »Paul sieht das anders. Er möchte deine Mutter kennenlernen.«
Elisabets Augen füllten sich mit Tränen. »Sie wird ihn nie empfangen«, sagte sie.
Sie war im selben Alter wie Mátyás, dachte Andras. Sie hatte ihre Zähne bekommen, als auch er zahnte, hatte zur gleichen Zeit die ersten Schritte gemacht, im selben Schuljahr schreiben gelernt. Aber sie war niemandes Schwester. Sie hatte keinen Altersgenossen im Haus, keinen, mit dem sie sich verbünden konnte. Sie hatte niemanden, mit dem sie die Intensität der mütterlichen Aufmerksamkeit und Liebe teilen musste.
»Er möchte wissen, ob es dir gut geht«, sagte Andras. »Wenn du ihm antworten willst, bringe ich ihm den Brief.«
»Warum solltest du?«, gab Elisabet zurück. »Ich bin so gemein zu dir gewesen!« Und sie legte den Kopf auf die Knie und weinte – nicht aus Reue, schien ihm, sondern aus purer Erschöpfung. Er setzte sich auf den Schreibtischstuhl neben dem Bett, schaute aus dem Fenster auf die Straße, wo mehrere Plakate für den Jardin des Plantes warben und andere J’accuse von Abel Gance anpriesen, ein Film, der gerade im Grand Rex angelaufen war. Andras würde so lange warten, wie sie weinen musste. Schweigend saß er neben ihr, bis sie fertig war, bis sie mit dem Ärmel über ihre Nase fuhr und mit der feuchten Hand das Haar nach hinten schob. Dann fragte er so vorsichtig wie möglich: »Meinst du nicht, dass es Zeit ist, etwas zu essen?«
»Kein Hunger«, sagte sie.
»Hast du wohl.« Er drehte sich zu dem Tablett auf dem Schreibtisch um und strich die Butter auf den Blaubeerkuchen, nahm die Serviette, legte sie auf Elisabets Knie und stellte das Tablett vor sie aufs Bett. Ein stiller Moment verging: Von unten hörten sie den Dreivierteltakt eines Walzers und Klaras Stimme, die die Schritte für ihre Privatschülerin vorzählte. Elisabet griff zur Gabel. Sie legte sie erst wieder fort, als alles aufgegessen war. Danach stellte sie das Tablett auf den Boden und nahm einen Schreibblock vom Tisch. Während Andras wartete, kritzelte sie mit einem stumpfen Stift ein paar Zeilen. Dann riss sie das Blatt heraus, faltete es in der Mitte und drückte es Andras in die Hand.
»Da hast du deine Entschuldigung«, sagte sie. »Ich habe mich bei dir und bei meiner Mutter entschuldigt und auch bei Frau Apfel, weil ich in den letzten Tagen so gemein zu ihr gewesen bin. Du kannst die Briefe auf den Sekretär meiner Mutter im Esszimmer legen.«
»Möchtest du Paul etwas schreiben?«
Sie biss auf das Ende des Stifts und riss noch ein Blatt Papier heraus. Nach einer Weile funkelte sie Andras böse an. »Ich kann nicht schreiben, wenn du mich beobachtest«, sagte sie. »Warte nebenan, ich rufe dich gleich herein.«
Er nahm das Tablett und brachte die leeren Teller in die Küche, wo Frau Apfel ihn sprachlos staunend anstarrte. Dann legte er die Entschuldigungsschreiben auf Klaras Sekretär. Schließlich ging er ins Schlafzimmer und stellte den kleinen Lavendelstrauch in ein Glas auf Klaras Nachttisch, zusammen mit einer Nachricht von ihm selbst, drei Worte. Dann ging er ins Esszimmer, wartete auf Elisabets Brief und überlegte, was er Klara sagen würde.
Im August schloss Monsieur Forestier seine Bühnenbildnerwerkstatt für einen dreiwöchigen Urlaub. Elisabet fuhr mit Marthe nach Avignon, wo deren Familie ein Sommerhaus hatte; sie würden nicht vor dem ersten September zurück sein. Frau Apfel besuchte wieder das Haus ihrer Schwiegertochter in Aix. Und Klara schrieb Andras eine Nachricht, er solle mit ausreichend Kleidung für einen zwölftägigen Aufenthalt in die Rue de Sévigné kommen.
Er packte seine Tasche, die Brust wie zugeschnürt vor Freude. Die Rue de Sévigné, die Wohnung, die sonnenbeleuchteten Zimmer, das Haus, wo er mit Klara im Dezember gelebt hatte: Jetzt würde es fast zwei Wochen lang wieder ihnen gehören. Wie er sich nach so einer Zeit mit ihr gesehnt hatte! Den ersten Monat nach Klaras Geständnis war er noch sehr verunsichert und angsterfüllt gewesen; trotz Klaras Versicherungen hatte er die Sorge nicht abschütteln können, dass Novak sie rufen und sie zu ihm gehen würde. Es wurde langsam besser, als der Juli verging und es keine Nachricht von Novak gab, keinen Hinweis, dass Klara Andras ihm zuliebe verlassen würde. Allmählich begann er ihr zu vertrauen, stellte sich sogar eine Zukunft mit ihr vor, auch wenn die Details noch im Dunkeln lagen. Er verbrachte den Sonntag wieder in ihrem Haus, sogar
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