Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Mutter und ich uns auch zukünftig sehen wollen.«
»Was genau hast du vor?«
»Du kannst Elisabet nicht besuchen, aber ich. Ich bin mir sicher, dass sie gerne von dir hören würde. Ich dachte, du möchtest ihr vielleicht eine Nachricht zukommen lassen.«
»Und wenn ihre Mutter das herausfindet?«
»Ich werde es ihr sagen«, erklärte Andras. »Ich bin überzeugt, dass sie sich früher oder später mit dir abfinden wird.«
Paul nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und schien den Vorschlag zu überdenken. Dann sagte er: »Hör zu, Lévi. Mir ist es ernst mit dem Mädchen. Sie ist anders als alle, die ich kenne. Ich hoffe, dass ich nichts tue, was die Sache noch schlimmer macht.«
»Im Moment glaube ich nicht, dass es viel schlimmer kommen kann.«
Paul drückte die Zigarette auf der Marmorstufe aus und schnippte sie in den Hof. »In Ordnung«, sagte er. »Warte hier. Ich schreibe eine Nachricht.« Andras blieb auf der Treppe zurück und wartete, beobachtete zwei Finken, die in einem Lavendelbusch nach Samen suchten. Er sah sich über die Schulter um, vergewisserte sich, dass ihn niemand beobachtete, holte sein Taschenmesser hervor und schnitt einige Stiele ab. Mit einem Baumwollfaden, den er vom Riemen seiner Bildermappe riss, band er den Lavendel zusammen. Kurz darauf kam Paul mit einem braunen Packpapierumschlag in der Hand zurück.
»Hier ist die Nachricht«, sagte Paul und reichte sie ihm. »Viel Glück für uns beide.«
»Here goes nothing« , sagte Andras. Sein einziger englischer Satz.
Als Andras am nächsten Mittag bei Klara eintraf, gab sie gerade eine Privatstunde. Es war Frau Apfel, die ihm die Tür öffnete. Ihre weiße Schürze war mit violettem Saft bekleckst, unter den Augen hatte sie zwei blaue Halbmonde, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen. Mit einem müden Stirnrunzeln sah sie Andras an; sie schien von ihm nichts als weiteren Ärger zu erwarten.
»Ich möchte Elisabet besuchen«, sagte Andras.
Frau Apfel schüttelte den Kopf. »Sie gehen besser wieder nach Hause.«
»Ich möchte gerne mit ihr sprechen«, beharrte er. »Ihre Mutter weiß, warum ich hier bin.«
»Elisabet möchte Sie nicht sehen. Sie hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Sie kommt nicht heraus. Sie isst nicht mal.«
»Lassen Sie es mich versuchen«, sagte Andras. »Es ist wichtig.«
Frau Apfel zog die Augenbrauen zusammen. »Glauben Sie mir, versuchen Sie es besser gar nicht erst.«
»Geben Sie mir ein Tablett mit Essen, ich bringe es ihr.«
»Sie werden auch nicht mehr Glück haben als wir«, sagte Frau Apfel, führte ihn jedoch die Treppe hinauf. Andras folgte ihr in die Küche, wo ein gestürzter Blaubeerkuchen auf einem Eisengitter abkühlte. Andras beugte sich darüber und sog den Duft ein, während Frau Apfel ein Omelett für Elisabet zubereitete. Sie schnitt ein dickes Stück vom Kuchen ab und schob es mit einem Eckchen Butter auf einen Teller.
»Sie hat seit zwei Tagen nichts gegessen«, sagte Frau Apfel. »Wenn das so weitergeht, müssen wir den Arzt rufen.«
»Mal sehen, was ich tun kann«, sagte Andras. Er nahm das Tablett und ging den Flur hinunter zu Elisabets Zimmer, klopfte mit der Ecke des Tabletts zweimal gegen die verschlossene Tür. Stille.
»Elisabet«, sagte er. »Ich bin es, Andras. Ich habe dir Essen gebracht.«
Nichts.
Er setzte das Tablett auf dem Boden ab, holte Pauls Umschlag aus der Tasche und schob ihn unter Elisabets Tür hindurch. Lange Zeit hörte er nichts. Dann ein schwaches Kratzen, als ziehe sie den Brief mit einem Stock an sich heran. Er lauschte auf das Rascheln von Papier. Da war es. Dann wieder Stille. Schließlich öffnete sie die Tür, und er trat herein und stellte das Tablett auf ihrem kleinen Schreibtisch ab. Sie streifte das Essen mit einem verächtlichen Blick und beachtete Andras nicht weiter. Ihr Haar war ein wildes graubraunes Durcheinander, ihre Augen feucht und gerötet. Sie trug ein zerknittertes Nachthemd und rote löchrige Socken.
»Mach die Tür zu!«, sagte sie. »Woher hast du diesen Brief?«
»Ich habe Paul besucht. Ich dachte, er würde bestimmt gerne wissen, was mit dir los ist. Dass er dir vielleicht eine Mitteilung schicken möchte.«
Sie seufzte und setzte sich aufs Bett. »Was macht das schon?«, sagte sie. »Meine Mutter wird mich nie wieder aus dem Haus lassen. Es ist vorbei mit Paul.« Als Elisabet die Augen zu Andras hob, stand darin ein Blick, den er noch nie bei ihr gesehen hatte: düstere, erschöpfte Kapitulation.
Andras
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