Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
vorschlug, ihn als Schüler aufzunehmen, hatte sich Goldstein über das Ballett lustig gemacht. Das sei eine Beschäftigung für Mädchen. Darauf reagierte Romankow, indem er einen der Tänzer des Königlich-ungarischen Balletts beauftragte, Goldstein auf dem Heimweg von der Schule abzufangen, ihn wie eine Hantel über den Kopf zu heben und mit ihm durch die Straßen zu laufen, bis Goldstein ihn anflehte, abgesetzt zu werden. Am nächsten Tag schrieb sich Goldstein in Romankows Anfängerkurs ein, und als er zwölf war und Klara zehn, tanzten die beiden Kinderrollen am Königlichen Ballett.
Für Klara war Sándor Bruder, Freund, Mitverschwörer. Er brachte ihr bei, wie man Romankow in den Wahnsinn trieb, indem man einen halben Takt hinter der Musik tanzte. Er zeigte ihr Leckereien, die sie nie probiert hatte: das trockene Ende einer Debreciner Wurst oder den kristallinen Rest aus den Kesseln mit den Zuckernüssen, den man am Abend für einen halben Fillér kaufen konnte, kleine saure Äpfel, sie sonst nur zu Gelee verkocht wurden, die aber köstlich waren, wenn man nicht zu viel davon aß. Und auf dem großen Markt an der Vámház körut brachte Sándor Klara das Stehlen bei. Während sie für den Süßwarenverkäufer Pirouetten drehte, stibitzte Sándor Pfirsichkonfekt für sie beide. Er packte kleine Matrjoschka-Puppen in seine Mütze, schlang bestickte Tücher um seinen kleinen Finger, pflückte Gebäck aus den Marktkörben der Frauen, die um den Preis von Obst und Gemüse feilschten. Klara lud Sándor zum Essen bei ihren Eltern ein, die ihn auf Anhieb gut leiden konnten. Ihr Vater unterhielt sich mit ihm, als sei er ein erwachsener Mann, ihre Mutter schenkte ihm Pralinen mit rosa Zuckerguss, und ihr Bruder steckte ihn in eine Militärjacke und zeigte ihm, wie man auf fiktive Serben schoss.
Als Klara und Sándor älter wurden, machte Romankow sie zu Tanzpartnern. Er brachte Sándor bei, Klara scheinbar mühelos emporzuheben, damit sie so leicht wie Riedgras wirkte. Er lehrte die beiden, ein Wesen aus zwei Körpern zu werden, dem Atemrhythmus des anderen, seinem Blut in den Adern zu lauschen. Er wies sie an, gemeinsam Anatomie-Lehrbücher zu studieren, und fragte sie über Muskulatur und Knochenstruktur ab. Er ging mit ihnen zu Leichenöffnungen an der Medizinischen Fakultät. Fünfmal pro Woche traten sie mit dem Königlichen Ballett auf. Mit dreizehn Jahren war Klara bereits ein Schmetterling, ein Luftgeist, eine Zuckerfee, ein Schwan, eine Hofdame, ein Bergfluss, ein Mondstrahl, ein Reh gewesen. Ihre Eltern hatten sich damit abgefunden, dass sie auf der Bühne auftrat; Klaras wachsender Ruhm hatte ihnen gewisses Ansehen im Bekanntenkreis eingebracht. Als Klara vierzehn und Sándor sechzehn wurde, begannen sie allmählich, Hauptrollen zu tanzen, und verdrängten Tänzer, die vier oder fünf Jahre älter waren als sie. Große Ballettmeister aus Paris, Petrograd und London kamen, um sich die beiden anzusehen. Sie tanzten für die enteigneten Königshäuser Europas, für vermögende französische und amerikanische Erben. Und inmitten des Durcheinanders aus Vortanzen, Proben, Generalproben und Aufführungen geschah das Unvermeidliche: Sie verliebten sich ineinander.
Ein Jahr später, im Frühling 1922, kam Admiral Miklós Horthy zu Ohren, dass die gefeiertesten Tänzer des königlosen Königreichs zwei jüdische Kinder seien, denen ein weißrussischer Emigrant das Tanzen beigebracht habe. Natürlich gab es kein Gesetz, das einem Juden verbot, Tänzer zu werden; im Königlichen Ballettensemble gab es keine dem Numerus clausus vergleichbare Quote, der den Anteil von Juden in Universitäten und öffentlichen Ämtern bei maximal sechs Prozent hielt. Doch Horthy empfand die Angelegenheit als Angriff auf sein Nationalgefühl. Ungarische Juden mochten magyarisiert werden, aber dadurch waren sie noch lange keine echten Ungarn. Sie mochten am wirtschaftlichen und bürgerlichen Leben des Landes teilhaben, doch sollten sie nicht als leuchtendes Beispiel magyarischen Könnens auf den Bühnen der Welt stehen. Und genau das hatte man diesen Kindern angeboten; aus diesem Grund hatte der Minister für Kulturelle Angelegenheiten die Angelegenheit an Horthy herangetragen. Klara und Sándor hatten für das Frühjahr Einladungen in siebzehn verschiedene Städte erhalten und die dafür notwendigen Visa beantragt.
Horty beschränkte sich auf die Andeutung, es müsse etwas unternommen werden. Er ließ dem Kulturminister freie Hand zu
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