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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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lief zurück um die Ecke, ihr Blick fiel auf eine männliche Gestalt, die sich über eine andere beugte. Sándor lag auf dem Rücken und starrte in den Himmel. Der Polizist mit dem Bulldoggengesicht kniete neben ihm, eine Hand auf Sándors Brust. Der Mann weinte, flehte den Jungen an, er solle aufstehen, verdammt noch mal, steh auf . Er beschimpfte ihn als faules Dreckstück und hob die blutverschmierte Hand von Sándors Brust. Er nahm die Waffe vom Pflaster, die er hatte fallen lassen, und richtete sie auf Klara; der Lauf reflektierte das Licht, bebte im trüben Abgrund der Gasse. Klara sprang zurück in die Sackgasse, wo der andere Beamte lag. Sie ging auf die Knie und tastete nach seiner Dienstwaffe; sie hatte sie zu Boden fallen hören, als sie den Mann von sich stieß. Da lag die Pistole, kalt und schwer auf der Erde. Klara nahm sie in die Hand und versuchte, sie an ihr Bein zu drücken, sie still zu halten. Der Polizist, der Sándor erschossen hatte, kam näher, noch immer weinend. Wenn Klara nicht kurz zuvor gesehen hätte, dass er eine Pistole trug, hätte sie vielleicht geglaubt, er flehe um Vergebung. Klara schaute zu Sándor hinüber und spürte das Gewicht der Frommer Stop in ihrer Hand, dieselbe Waffe, die der Polizist namens Lajos an ihre Kehle gedrückt hatte. Sie hob sie und zielte.
    Ein zweiter Schuss. Gáspár stolperte rückwärts und fiel; danach herrschte absolute Stille.
    Der Schmerz des Rückstoßes in ihrem Handgelenk machte Klara bewusst, was geschehen war: Sie hatte den Abzug betätigt, sie hatte einen Mann erschossen. Von der Andrássy út erscholl der Ruf einer Frau. Etwas weiter entfernt schickte ein Martinshorn sein zweitöniges Geheul in den Himmel. Mit der Waffe in der Hand näherte sich Klara dem Polizisten, den sie erschossen hatte. Er war rücklings aufs Pflaster gefallen, einen Arm über dem Kopf. Aus der Gasse in ihrem Rücken kamen ein Stöhnen und ein Wort, das sie nicht verstand. Der zweite Polizist stützte sich auf Hände und Knie. Er sah die Waffe in Klaras Hand und den Toten auf der Straße. In drei Tagen würde er selbst seiner Kopfverletzung erliegen, doch nicht ohne die Identität seiner eigenen Mörderin und der seines Kollegen enthüllt zu haben. Das Martinshorn kam näher; Klara ließ die Waffe fallen und rannte davon.
    Sie hatte einen Polizisten getötet und einen anderen tödlich verletzt. Das waren die Fakten. Dass sie von dem einen vergewaltigt worden war, hätte nie vor Gericht bewiesen werden können. Alle Zeugen waren tot, und nach wenigen Tagen waren Klaras Blutergüsse und Schrammen verblasst. Da war sie bereits auf Drängen des Anwalts ihres Vaters über die Grenze nach Österreich geschafft worden, von dort nach Deutschland und von Deutschland nach Frankreich. Die Stadt Paris sollte ihre Zuflucht sein, die berühmte Ballettlehrerin Olga Newitskaja, eine Cousine von Romankow, zu ihrer Beschützerin werden. Die Regelung war vorübergehend gedacht. Klara sollte nur so lange bei der Newitskaja wohnen, bis ihre Eltern herausgefunden hatten, wer bestochen werden musste oder wie ihre Sicherheit anderweitig garantiert werden konnte. Doch noch bevor zwei Wochen vergangen waren, wurde Klaras prekäre Lage ersichtlich. Mordanklage war gegen sie erhoben worden. Aufgrund der Schwere des Verbrechens würde sie vor Gericht als Erwachsene behandelt werden. Der Anwalt ihres Vaters war der Meinung, es sei nicht erfolgversprechend, auf Selbstverteidigung zu plädieren; die Polizei hatte behauptet, dass der von Klara getötete Mann unbewaffnet gewesen sei, als sie auf ihn zielte. Natürlich hatte er eine Waffe besessen; kurz davor hatte er damit Sándor erschossen. Doch der andere Beamte, der Zeuge der Schießerei gewesen war, hatte ausgesagt, sein Kollege Gáspár habe die Waffe fallen lassen, bevor er auf Klara zuging. Die Zeugenaussage wurde durch Beweismaterial untermauert: Man hatte die Waffe neben Sándors Leiche gefunden, drei Meter vom toten Beamten entfernt.
    Damit nicht genug, stellte sich heraus, dass der Mann, den Klara erschossen hatte, ein Kriegsheld gewesen war. Er hatte fünfzehn Mitglieder seiner Kompanie in der Schlacht von Kowel gerettet und war vom Kaiser offiziell belobigt worden. Und wenn das noch nicht gereicht hätte, um Klara die Gunst jedes Richters zu entziehen, so wurde aus Polizeikreisen die Behauptung laut, dass die rechtsgerichteten Mitglieder des Dezernats kürzlich Drohungen von Gesher Zahav erhalten hätten, einer zionistischen Vereinigung,

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