Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Tassenrand. »Sie glaubt, sie sei das Kind eines Mannes, den du geliebt hast.«
»Ja«, sagte Klara. »Es hätte ihr nicht geholfen, die Wahrheit zu kennen.«
»Und jetzt hast du es mir erzählt. Du hast es mir erzählt, damit ich verstehe, was in Nizza geschehen ist. Du hast dich einmal verliebt, in Sándor Goldstein, und du kannst niemand anders mehr lieben. Madame Gérard deutete das einmal an – sie sagte mir vor langer Zeit, dass du einen Mann liebst, der tot ist.«
Klara seufzte leise. »Ich habe Sándor geliebt«, sagte sie, »ihn angebetet. Aber es ist romantischer Unsinn zu glauben, dass meine Gefühle für ihn mich davon abhalten würden, jemals wieder zu lieben.«
»Was war in Nizza?«, fragte Andras. »Was ist da mit dir geschehen?«
Klara schüttelte den Kopf und stützte die Wange in die Hand. »Ich glaube, ich hatte Angst. Ich merkte auf einmal, wie es wäre, mit dir zu leben. Zum ersten Mal schien das möglich. Aber es gab so viele schreckliche Dinge, die ich dir nicht erzählt hatte. Du wusstest nicht, dass ich einen Mann erschossen habe und auf der Flucht vor der Justiz lebe. Du wusstest nicht, dass ich vergewaltigt wurde. Du wusstest nicht, wie kaputt ich bin.«
»Wie hätte ich denn anders darauf reagieren können, als mich dir noch näher zu fühlen?«
Klara stellte sich neben ihn ans Fenster, das Gesicht rot und feucht, ungeschützt im schwachen Licht. »Du bist ein junger Mann«, sagte sie. »Du könntest jemanden lieben, der ein einfaches Leben hat. Du kannst das alles nicht gebrauchen. Ich war überzeugt, du würdest das genauso sehen, sobald ich dir alles erzählt hatte. Ich war überzeugt, du würdest in mir einen zerstörten Menschen sehen.«
Im letzten Dezember hatte sie an derselben Stelle gestanden, und eine Tasse Tee hatte in ihrer Hand gezittert. »Trink du auch was«, hatte sie gesagt und ihm die Tasse gereicht. Te.
»Klara«, sagte er. »Du irrst dich. All deine Kompliziertheit würde ich nicht gegen die Einfachheit einer anderen Frau tauschen wollen. Verstehst du?«
Sie hob den Blick. »Das ist schwer zu glauben.«
»Versuch es«, sagte er und zog sie eng an sich, damit er den warmen Geruch ihrer Kopfhaut, die Dunkelheit ihres Haars einatmen konnte. Hier in seinen Armen war das Mädchen, das in dem Haus unweit des Városliget gelebt hatte, die junge Tänzerin, die Sándor Goldstein geliebt hatte, die Frau, die nun ihn liebte. Fast konnte er in ihr das namenlose Wesen erkennen, das bei alldem gleich geblieben war: ihr Ich , ihr pures Selbst. Es war so klein, ein Senfkorn mit einer tief in der Erde verankerten Wurzel, kräftig und zerbrechlich zugleich. Doch es war alles, was nötig war. Es war alles. Sie hatte es ihm gegeben, jetzt hielt er es in den Händen.
Sie verbrachten die Nacht gemeinsam in der Rue des Écoles. Am Morgen wuschen sie sich und zogen sich in der blauen Kälte von Andras’ Zimmer an, dann liefen sie zusammen zur Rue de Sévigné. Es war der siebte November, ein kühler, grauer, frostfedriger Morgen. Andras ging mit ihr ins Haus, um den Kohleofen im Ballettstudio anzufachen. Seit zwei Monaten war er nicht mehr dort gewesen, an ihrem eigenen Ort. Der Saal war still, auf die erwartungsfrohe Weise eines Klassenzimmers; er roch nach Ballettschuhen und Harz, so wie das Studio in Budapest, von dem Klara erzählt hatte. In der Ecke stand der Zeichentisch, den sie ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, er war verhüllt, damit er nicht verstaubte. Klara ging hin und zog das Laken ab.
»Ich habe ihn aufbewahrt, so wie du es wolltest«, sagte sie.
Andras nahm ihr das Tuch ab und wickelte es um sie beide. Er zog Klara so eng an sich, dass er ihre Hüftknochen, ihren Brustkorb beim Atmen spürte. Er zog das Ende des Lakens über ihre Köpfe, sodass sie verhüllt in einer Ecke des Saals standen. In der weißen Abgeschiedenheit dieses Zelts hob er ihr Kinn mit einem Finger an und küsste sie. Sie zog den Stoff noch enger um sie beide.
»Wir kommen nie mehr heraus«, sagte er. »Wir bleiben für immer hier.«
Er beugte sich vor und küsste sie wieder, erfüllt von der Gewissheit, dass ihn nichts von diesem Ort vertreiben konnte – weder Hunger noch Erschöpfung, Schmerz, Angst, noch Krieg.
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20.
Ein Toter
DIE NACHRICHT ERREICHTE ANDRAS im Atelier. Obwohl er nach der Nacht mit Klara halb blind vor Erschöpfung war, musste er zur Schule gehen; er hatte an jenem Tag eine Beurteilung. Es ging um eine Stilübung: Aufgabe war es, ein zweckbestimmtes
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