Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
und das Vorhaben, waren anderer Meinung. Sie konnten sich nicht mit der Vorstellung abfinden, dass ihre Tochter möglicherweise das Kind eines Verbrechers aufziehen würde. Ihr Vater war sogar so strikt gegen ihren Plan, dass er damit drohte, Klara fallen zu lassen, wenn sie das Kind behielte. Was wolle sie denn tun, allein in Paris? Sie könne nicht tanzen, nicht in der Schwangerschaft und nicht mit einem Säugling, für den sie sorgen müsse; wie wolle sie ihren Lebensunterhalt verdienen? Sei ihre Lage nicht schon schwierig genug?
Doch Klaras Entschluss stand fest. Sie würde keine Abtreibung vornehmen, und das Kind weggeben würde sie auch nicht. Nach der ersten Vermutung, dass Sándor der Vater sein könnte, nahm diese Vorstellung immer mehr das Gewicht einer Gewissheit an. Sollte ihre Familie ihr doch den Rücken kehren. Sie würde arbeiten; Klara wusste, was sie konnte. Sie ging zu Madame Newitskaja und bat sie, Anfängerklassen unterrichten zu dürfen. Das könnte sie so lange tun, bis ihre Schwangerschaft sichtbar würde, und anschließend weitermachen, wenn sie sich von der Geburt erholt hätte. Wenn Madame Newitskaja Klara als Lehrerin beschäftigte, wären ihr eigenes Leben und das des Kindes gerettet.
Die Newitskaja war einverstanden. Sie überließ Klara einen Kurs mit Siebenjährigen und kaufte ihr das schwarze Tanzkleid, das alle Lehrerinnen an der Schule trugen. Und so kehrte Klara ins Leben zurück. Ihr Appetit wurde wieder stärker, sie nahm langsam zu. Der Schwindel verschwand. Sie konnte nachts wieder schlafen. Das Kind ist von Sándor, dachte sie; nicht von dem anderen. Klara ging zum Friseur und ließ sich das Haar abschneiden. Sie kaufte ein Sackkleid der Art, wie es gerade in Mode war, ein Kleid, das sie noch spät in der Schwangerschaft tragen konnte. Sie kaufte ein neues in Leder gebundenes Tagebuch. Jeden Tag ging sie zur Ballettschule und unterrichtete ihre Klasse aus zwanzig kleinen Mädchen. Als sie keinen Unterricht mehr geben konnte, bat sie Mascha, ihr bei der Arbeit im Haus helfen zu dürfen. Mascha zeigte ihr, wie man sauber machte, wie man kochte, wie man wusch; sie brachte Klara bei, sich auf dem Markt und in den Geschäften zurechtzufinden. Als Klara im sechsten Monat feststellte, dass die Verkäufer auf ihren Bauch und dann auf ihre nackte linke Hand schielten, kaufte sie sich einen Messingring, den sie wie einen Ehering am dritten Finger trug. Sie kaufte ihn aus praktischen Gründen, doch nach einer Weile kam es ihr vor, als sei es wirklich ein Ehering; Klara hatte das Gefühl, mit Sándor Goldstein verheiratet zu sein.
Als der neunte Monat näher rückte, hatte sie lebhafte Träume von Sándor. Keine Albträume, wie Klara sie in den ersten Wochen in Paris gehabt hatte – Sándor in der Gasse auf dem Boden, die Augen starr zum Himmel gerichtet –, sondern Träume, in denen sie ganz normale Dinge zusammen machten: an einer komplizierten Hebung arbeiten, sich über die Lösung eines arithmetischen Problems streiten oder in der Garderobe des Operaház miteinander ringen. In einem Traum war er dreizehn und stahl mit ihr Süßigkeiten auf dem Markt. In einem anderen war er noch jünger, ein Knabe mit dünnen Armen, der ihr am Palatinusstrand das Tauchen beibrachte. Sie dachte an ihn, als die ersten Wehen kamen; sie dachte an ihn, als das Wasser aus ihr schoss. Es war Sándor, nach dem sie rief, als die Schmerzen in ihr länger und tiefer wurden, ein gleißender Feuerstrom, der sie aufzureißen drohte. Als sie nach dem Kaiserschnitt erwachte, streckte sie die Arme aus, um sein Kind entgegenzunehmen.
Aber es war natürlich alles andere als sein Kind. Es war Elisabet.
Als Klara ihre Geschichte beendet hatte, saßen sie schweigend vor dem Ofen, Andras auf dem Hocker und Klara im zinnoberroten Sessel, die Füße unter den Rock gezogen. Der Tee in ihren Tassen war kalt geworden. Draußen rüttelte ein heftiger Wind an den Bäumen. Andras stand auf, ging zum Fenster und schaute hinunter auf den Eingang des Collège de France, auf seinen zerlumpten Spitzenkragen aus Clochards.
»Zoltán Novak weiß Bescheid«, sagte er.
»Er kennt die grundlegenden Fakten. Als Einziger in Frankreich. Madame Newitskaja ist vor einiger Zeit gestorben.«
»Du hast es ihm erzählt, damit er verstand, warum du ihn nicht lieben konntest.«
»Wir standen uns sehr nahe, Zoltán und ich. Ich wollte, dass er Bescheid weiß.«
»Nicht mal Elisabet weiß es«, sagte Andras und fuhr mit dem Daumen über den
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