Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Gebäude im Stil eines zeitgenössischen Architekten zu entwerfen. Andras hatte sich für ein Architekturstudio nach Art von Pierre Charreau entschieden und es auf das schon bestehende Haus des Arztes auf der Rue Saint-Guillaume gesetzt: ein dreistöckiges Gebäude aus Glasblöcken und Stahl, das tagsüber von Streulicht durchflutet wurde und nachts von innen leuchtete. Alle waren schon früh da, um ihre Entwürfe an die Wände zu heften; nachdem Andras einen Platz für seine Zeichnungen gefunden hatte, nahm er sich einen Hocker vom Werktisch, setzte sich mit den älteren Studenten um ein farbbekleckstes Rundfunkgerät und hörte die Nachrichten. Alle rechneten lediglich mit dem üblichen Pandämonium von Sorgen.
Es war Rosen, der es als Erster mitbekam; er drehte den Ton lauter, damit es alle hören konnten. Auf den deutschen Botschafter war geschossen worden. Nein, doch nicht auf den Botschafter, sondern auf einen Angestellten. Einen Botschaftssekretär, was auch immer das war. Ernst Eduard vom Rath. Neunundzwanzig Jahre alt. Ein Kind hatte auf ihn geschossen. Ein Kind? Das konnte nicht sein. Ein junger Bursche. Ein siebzehnjähriger Junge. Ein junger Jude. Ein deutsch-jüdischer Junge polnischer Herkunft. Er hatte auf den Beamten geschossen, um sich für die Deportation von zwölftausend Juden aus Deutschland zu rächen.
»Oh, Gott«, sagte Ben Yakov und fuhr sich mit den Händen durch das pomadige Haar. »Er ist ein toter Mann.«
Alle drängten näher heran. War der Botschaftsangestellte noch am Leben? Die Antwort folgte kurz darauf: Er habe vier Schüsse in den Bauch bekommen, werde gerade in der Alma-Klinik an der Rue de l’Université operiert, keine zehn Minuten von der École Spéciale entfernt. Es gäbe das Gerücht, Hitler würde seinen Leibarzt aus Berlin schicken, zusammen mit dem leitenden Chirurgen der Universität München. Der Attentäter, ein gewisser Gruenspan oder Grinspun, würde an einem ungenannten Ort festgehalten.
»Der schickt seinen Leibarzt!«, rief Rosen. »Das glaube ich gerne. Und zwar mit einer schönen großen Kapsel Arsen für den Patienten.«
»Was meinst du damit?«, fragte jemand.
»Vom Rath muss sterben, für Deutschland«, erklärte Rosen. »Wenn er tot ist, können sie mit den Juden machen, was sie wollen.«
»Sie würden niemals ihren eigenen Mann umbringen.«
»Natürlich würden sie das.«
»Es wird nicht nötig sein«, sagte ein anderer Student. »Der Mann hat vier Schüsse abbekommen.«
Polaner hatte sich von dem Pulk um das Rundfunkgerät entfernt und war ans Fenster gegangen, um eine Zigarette zu rauchen. Andras gesellte sich zu ihm und schaute auf den Hof hinunter, wo zwei Studenten aus dem fünften Jahr ein kompliziertes Holzmobile an einem Baum anbrachten. Polaner machte das Fenster einen Spaltbreit auf und blies eine Rauchschlange in die eisige Luft.
»Ich kannte ihn«, sagte er. »Nicht den Juden. Den anderen.«
»Vom Rath?«, fragte Andras. »Woher?«
Polaner hob kurz den Blick zu Andras und wandte ihn wieder ab. Er strich die Asche auf dem Fensterbrett ab, wo sie kurz als Quader stand und dann zerfiel. »Es gibt da eine Bar, wo ich öfter war«, sagte Polaner. »Er ging auch dorthin.«
Andras nickte schweigend.
»Ein Attentat«, sagte Polaner. »Von einem siebzehnjährigen Juden. Ausgerechnet auf vom Rath.«
In dem Moment kam Vago herein und stellte den Empfänger ab, und alle nahmen ihre Plätze ein für den kurzen Vortrag, den er halten würde, bevor die Beurteilungsrunde begann. Andras saß auf seinem Holzhocker und hörte nur halb zu, kratzte mit der Metallklemme seines Stiftes einen Würfel in die Oberfläche seines Arbeitstisches. Es war alles zu viel für ihn: was Klara ihm in der letzten Nacht erzählt hatte und was an der deutschen Botschaft geschehen war. In seinem Kopf wurde alles eins: Klara und der polnisch-deutsche Jüngling, beide geschändet, beide mit einem Revolver in der zitternden Hand, beide drückten ab, waren verdammt. Nazi-Ärzte eilten nach Paris, um einen Mann zu retten oder zu töten. Und der polnisch-deutsche Jüngling saß irgendwo im Gefängnis und wartete auf die Verkündung, ob er ein Mörder war oder nicht. Andras’ Entwurf hatte eine Nadel verloren und hing schief an der Wand. Er schaute hinüber und dachte: Genau! Im Moment schien alles nur noch an einem dünnen Faden zu hängen: nicht nur Häuser, sondern ganze Städte, Länder, Völker. Er wollte das Summen in seinem Kopf zum Schweigen bringen. Er wollte im
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