Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
weichen weißen Bett in Klaras Haus liegen, in ihrem weißen Schlafzimmer, in den Laken, die nach ihrem Körper dufteten. Aber vor ihm stand Vago, der seine Zeichnung an der Ecke anhob und sie wieder an der Wand befestigte; um ihn herum sein Kurs. Es war Zeit für seinen Entwurf. Mit großer Willensanstrengung erhob Andras sich vom Tisch und stellte sich während der Besprechung neben sein Werk. Erst als ihm anschließend alle auf die Schulter klopften und die Hand schüttelten, merkte er, dass es ein Erfolg gewesen war.
»Vom Rath hatte nichts gegen Juden«, sagte Polaner. »Er war natürlich in der Partei, aber er missbilligte, was in Deutschland geschieht. Deshalb ging er nach Frankreich. Er wollte weit fort. Das hat er mir zumindest erzählt.«
Zwei Tage waren vergangen; am Nachmittag war Ernst vom Rath in der Alma-Klinik gestorben. Hitlers Ärzte waren gekommen, hatten sich aber den französischen Kollegen fügen müssen. In den Abendnachrichten wurde verkündet, vom Rath sei an Komplikationen infolge einer Milzverletzung gestorben. Am Samstag sollte es eine Gedenkfeier in der deutschen lutherischen Kirche geben.
Andras und Polaner waren auf ein Glas Whisky ins La Colombe Bleue gegangen, hatten dann aber festgestellt, dass sie knapp bei Kasse waren. Es war Monatsende; nicht einmal der gemeinsame Inhalt ihrer Taschen reichte noch für ein einziges Getränk. Deshalb sagten sie dem Kellner, sie würden in Kürze bestellen, und unterhielten sich in der Hoffnung, eine halbe Stunde in dem warmen Raum verbringen zu können, ehe man sie zum Gehen aufforderte. Nach einer Weile brachte der Kellner ihnen wie immer Whisky und Wasser. Als sie einwandten, sie könnten nicht zahlen, zwirbelte der Kellner ein Ende seines Schnurrbarts und sagte: »Dann zahlt ihr halt nächstes Mal doppelt.«
»Wie hast du ihn kennengelernt?«, fragte Andras Polaner.
Der zuckte mit den Schultern. »Irgendjemand hat uns bekannt gemacht. Er hat mir einen Drink spendiert. Wir haben uns unterhalten. Er war intelligent und belesen. Ich mochte ihn.«
»Aber als du erfuhrst, wer er war …«
»Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen?«, sagte Polaner. »Weggehen? Hättest du es richtig gefunden, wenn er das mit mir gemacht hätte?«
»Aber wie konntest du da sitzen und mit einem Nazi reden? Besonders nach dem, was letzten Winter passiert ist?«
»Das ist ja nicht er gewesen. Er hätte das nie getan. Das habe ich dir schon gesagt.«
»Zumindest behauptete er das. Aber dafür könnte er andere Motive haben.«
»Herrgott noch mal«, sagte Polaner. »Kannst du nicht einmal aufhören? Ein Mann, den ich kannte, ist gerade gestorben. Das versuche ich zu begreifen. Reicht das nicht fürs Erste?«
»Tut mir leid«, sagte Andras.
Polaner legte die gefalteten Hände auf den Tisch und stützte das Kinn darauf. »Ben Yakov hatte recht«, sagte er. »Sie werden an dem jungen Burschen ein Exempel statuieren. Grynszpan. Er wird ausgeliefert, und dann bringen sie ihn auf spektakuläre Weise um.«
»Das können sie nicht. Die ganze Welt schaut zu.«
»Umso besser, wenn’s nach denen geht.«
Klara stand mit der Zeitung in der Hand am Fester und schaute hinunter auf die Rue de Sévigné. Gerade hatte sie einen kurzen Artikel über die Maßnahmen vorgelesen, die die deutsche Regierung gegen das jüdische Volk ergreifen wollte als Entschädigung für die katastrophale Zerstörung deutschen Eigentums infolge der Gewalttätigkeiten vom neunten November . In den Zeitungen wurde der Tag Reichskristallnacht genannt. Andras ging im Zimmer auf und ab, die Hände tief in die Taschen geschoben. Am Sekretär saß Elisabet, ein Notizbuch aufgeschlagen vor sich, und kritzelte mit einem Stift Zahlenreihen hinein.
»Eine Milliarde Reichsmark«, sagte sie. »So hoch ist die Geldstrafe für die Juden. In Deutschland gibt es eine halbe Million Juden. Das heißt, jeder muss zweitausend Reichsmark zahlen, Kinder eingeschlossen.«
Die Logik war hanebüchen. Andras hatte erfolglos versucht, sie nachzuvollziehen. Grynszpan hatte vom Rath erschossen; vom Rath war gestorben; die Kristallnacht sei die verständliche Reaktion des deutschen Volkes auf diesen Mord gewesen. Deshalb trugen die Juden die Verantwortung für die Zerstörung jüdischer Einrichtungen, das Anstecken von Synagogen und das Plündern von Häusern – ganz zu schweigen von der Ermordung von einundneunzig Juden und die Verhaftung dreißigtausend weiterer –, und deshalb mussten die Juden zahlen. Ungeachtet
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