Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
möchte ich dich küssen. Darf ich?«
Zur Antwort schlang sie die Arme um ihn, und er küsste sie, wünschte sich dabei, er hätte den ganzen Tag, das ganze Jahr, sein ganzes Leben lang nichts anderes zu tun. Dann löste er sich von ihr und sagte: »Ich bin gar nicht darauf vorbereitet. Ich habe nichts für dich. Ich habe keinen Ring.«
»Einen Ring!«, sagte sie. »Ich will keinen Ring.«
»Aber du bekommst noch einen. Ich kümmere mich darum. Und dass ich deiner Mutter schreiben möchte, habe ich auch ernst gemeint.«
»Das ist eine komplizierte Sache, wie du weißt.«
»Ich würde gerne mit József sprechen«, sagte Andras. »Er könnte ihr schreiben oder einen Brief von mir seinem eigenen beilegen.«
Klara zog die Lippen zusammen. »Nach all dem, was du mir über sein Leben erzählt hast, erscheint es mir klüger, ihn nicht in unsere Situation einzuweihen.«
»Wenn wir heiraten, wird er es irgendwann erfahren müssen. Das Quartier Latin ist eine kleine Welt.«
Sie seufzte. »Ich weiß. Die Sache ist ganz schön verworren.« Sie ging zurück zum Sofa und schlug die zusammengefaltete Zeitung auf. »Zumindest haben wir noch Zeit, darüber nachzudenken. Sieben Monate«, sagte sie. »Wer weiß, was in der Zwischenzeit geschieht? Sollten wir nicht alle ganz schnell heiraten? Sollte ich nicht froh sein, dass mein Kind über den Ozean nach Amerika geht? Wenn es Krieg gibt, wird Elisabet dort sicherer sein.«
Sicherheit, dieser flüchtige Geist. Sie hatte Ungarn und die Säle der École Spéciale verlassen, war lange vor dem neunten November aus Deutschland geflohen. Doch als Andras sich neben Klara setzte und auf die Zeitung in ihrem Schoß schaute, spürte er die Erschütterung von Neuem. Er folgte der Kontur ihrer Hand auf dem Titelblatt: ein Mann und eine Frau in Nachtwäsche mitten auf der Straße, zwischen ihnen ein kleiner Junge, der eine Kasperlepuppe mit einer Zipfelmütze an sich drückte; alle drei von einem brennenden Haus hinter ihnen brutal beleuchtet, das von der Türschwelle bis zu den Dachsparren in Flammen stand. Wo das Feuer Teppiche und Bodenbelag, Tapeten und Stuck verzehrt hatte, konnte Andras die Konstruktionsweise des Hauses erkennen, angestrahlt wie das nackte Skelett eines Tieres. Und er sah, was ein Architekt sehen mochte, was der Mann und die Frau und der Junge nicht gesehen haben konnten, als sie in dem Moment auf der Straße standen: Die tragenden Teile waren bereits verkohlt, im nächsten Moment würde das Gebäude in sich zusammensacken wie ein schlecht gebautes Modell, und die Balken würden zu Asche zerfallen.
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DRITTER TEIL
Aufbrüche und Ankünfte
21.
Eine Abendgesellschaft
ANFANG DEZEMBER GAB MADAME GÉRARD aus Anlass ihres Geburtstags eine Abendgesellschaft. Klara erhielt eine Einladung auf einer schweren, mit goldenen Lettern bedruckten elfenbeinfarbenen Karte; Andras war als ihre Begleitung genannt. Am Abend der Feier zog er ein tadelloses weißes Hemd und eine blaue Seidenkrawatte an, besprühte und bürstete seine Smokingjacke und polierte die Schuhe, die Tibor ihm ein Jahr zuvor aus Budapest mitgebracht hatte. Er redete sich ein, es sei nichts Besonderes, bei Marcelle eingeladen zu sein; doch tatsächlich sollte es das erste Wiedersehen mit ihr nach ihrem Abschied vom Théâtre Sarah-Bernhardt werden und vor allem das erste Mal, dass er in der Öffentlichkeit als Klaras zukünftiger Ehemann auftrat, inmitten von Menschen, die ihn als tiefer stehend empfinden mochten. Er hatte nicht nur Angst vor dem, was Klaras Freunde von ihm halten würden, sondern besonders davor, was sie denken könnte, wenn sie ihn zum ersten Mal inmitten ihrer Bekannten sah. Diese Choreografen, diese Tänzer, diese Komponisten, die Klara ihre Musik manchmal zum Geschenk machten: Was war er schon im Vergleich zu ihnen? Doch nur ein Novize, ein Kandidat, ein »Jetzt noch nicht, vielleicht später«. Er fragte sich, ob Marcelle diese Wirkung beabsichtigt hatte. Doch Klara lenkte ihn von seinen Sorgen ab; als er an jenem Abend in der Rue de Sévigné eintraf, war sie entspannt und zutraulich. Sie spazierten die eisigen Boulevards entlang zu Marcelles neuer Wohnung im Elften, durch Straßen, die nach Holzrauch und heranrückender Kälte rochen. Es war schwer zu glauben, dass es Anfang Dezember war – ein Jahr, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Bald würden die Schlittschuhteiche im Bois de Vincennes und im Bois de Boulogne wieder zugefroren sein.
Bei Madame Gérard wurden sie
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