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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Frau kam in einer verschmutzten Schürze und schwarzen Arbeitshandschuhen heraus, auf der Stirn ein Streifen Fett.
    »Tss!«, machte sie. »Zu ungelegener Stunde kommt ein Besucher und verursacht einen großen Tumult. Welch Überraschung: Es ist ein Verwandter von Ihnen.«
    »Wann ist mein Bruder gegangen?«
    »Vor nicht mal drei Minuten. Ich habe gerade den Ofen sauber gemacht, wie Sie sehen.«
    »Vor drei Minuten?«
    »Sie brauchen nicht so zu schreien, junger Mann.«
    »Entschuldigung«, sagte Andras. Er stopfte den Zettel in die Tasche und stürzte auf die Straße. Die Tür schlug krachend hinter ihm zu; der gedämpfte Fluch der Concierge folgte ihm die Straße hinunter. Er lief in Richtung Marais. Es war ein heller, warmer Morgen; die Straßen waren bereits voller Touristen mit Fotoapparaten, Familien auf Samstagsspaziergängen, Arm in Arm schlendernder Paare. Am Pont Louis-Philippe entdeckte Andras einen vertrauten Hut in der dichten Menschenmenge. Er rief seinen Bruder beim Namen, und der Mann drehte sich um.
    Sie trafen sich auf der Brückenmitte. Tibor schien schmaler geworden zu sein, seit Andras ihn das letzte Mal gesehen hatte; seinen Wangenknochen standen stärker hervor, die Schatten unter seinen Augen waren dunkler. Als sie sich umarmten, fühlte Tibor sich an, als sei er aus einem leichteren Stoff als Fleisch.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte Andras und musterte das Gesicht seines Bruders.
    »Ich habe nicht mehr geschlafen, seit ich deinen Brief erhalten habe«, erklärte Tibor.
    »Wann bist du angekommen?«
    »Gestern Abend. Ich bin zu dir gegangen, aber du warst nicht da.«
    »Ich habe die ganze Nacht gearbeitet. Deine Nachricht habe ich gerade erst bekommen.«
    »Das heißt, du hast noch nicht mit ihr gesprochen? Sie weiß nicht, dass ich in Paris bin?«
    »Nein. Sie weiß nicht mal, dass ich dir geschrieben habe.«
    »Wie geht es ihr, Andras?«
    »Unverändert. Sie ist sehr traurig. Aber ich glaube, das wird sich bald ändern.«
    Tibor sah seinen Bruder verwirrt an. »Wenn du dir so sicher bist, dass sie sich freut, mich zu sehen, warum jagst du mir dann durch die halbe Stadt hinterher?«
    »Wahrscheinlich, weil ich dich zuerst sehen wollte«, sagte Andras lachend.
    »Und? Wie sehe ich aus?« Tibor breitete die Arme aus.
    »Scheußlich wie immer. Und ich?«
    »Schnürsenkel offen. Tintenkleckse auf dem Hemd. Und rasiert bist du auch nicht.«
    »Perfekt. Dann los jetzt!« Er nahm Tibors Arm und drehte seinen Bruder in Richtung der Rue de Sévigné. Doch Tibor rührte sich nicht. Er legte eine Hand auf die Brüstung und sah in die Seine hinunter.
    »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, sagte er. »Ich bin wie versteinert.«
    »Ist doch verständlich«, sagte Andras. »Aber wo du jetzt hier bist, musst du es auch tun.« Er wies mit dem Kopf zum Marais hinüber. »Los, komm!«
    Sie gingen gemeinsam, beide benommen vor Schlafmangel; auf dem Weg erstand Tibor einen Strauß Rosen bei einem Blumenladen an einer Ecke. Als sie Klaras Haus erreichten, hatte Andras die Zweifel seines Bruders zu seinen eigenen gemacht; er befürchtete, dass es besser gewesen wäre, ihr Kommen anzukündigen. Er schaute durch die Fensterscheiben in das friedliche Licht des Ballettsaals, noch leer vor der ersten Stunde, und bedauerte, dass sie die samstägliche Ruhe der Morgensterns stören würden.
    Doch im Haus herrschte bereits großes Tohuwabohu. Kaum fasste Andras an die Haustür, schwang sie auf; von oben ertönte Geschrei – Klaras panisch erhobene Stimme, Rufe von Frau Apfel. Im ersten Moment dachte Andras, sie seien zu spät gekommen: Ilana di Sabato hätte sich in ihrer Verzweiflung das Leben genommen, und Klara habe gerade ihre Leiche entdeckt. Er griff nach dem Geländer und stürzte die Treppe hinauf, gefolgt von Tibor.
    Doch Ilana war nirgends zu sehen; am oberen Treppenabsatz stießen sie auf Frau Apfel. »Sie ist weg!«, sagte sie. »Der kleine Drache ist abgehauen!«
    »Wer?«, fragte Andras. »Was ist passiert?«
    »Sie ist mit ihrem Monsieur Camden nach Amerika gegangen! Hat ihrer Mutter einen Zettel hinterlassen. Ich könnte das Kind erwürgen! Ich könnte ihr den Hals umdrehen!«
    Vom anderen Ende des Flurs kam das gewaltige Poltern eines sperrigen, stabilen Gegenstands. Andras ging in Klaras Schlafzimmer und sah, dass sie einen Koffer vom Schrank heruntergezogen hatte. Sie warf ihn auf ihr ungemachtes Bett, klappte ihn auf und riss ihren Staubmantel aus dem braunen Einschlagpapier.
    »Was machst du

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