Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
erleichtert, als sie sich von Klara und Elisabet verabschieden und zu zweit loslaufen konnten.
Auf dem Weg zum Kai kamen sie an einem Straßenmarkt vorbei. Sie sahen Männer, die Makrelen, Seezunge und Langusten verkauften, Kästen mit myrtilles , Netze voller Sommerkürbisse, kleine gelbe Pflaumen im Dutzend. Urlauberfamilien drängten sich auf den Straßen, es liefen so viele Kinder in Matrosenanzügen herum, dass sie eine Kinderkriegsmarine hätten stellen können. Als sei ihre Männlichkeit von den gerade miterlebten Gefühlsausbrüchen infrage gestellt worden, unterhielten sich Andras und Paul befangen über Schiffe und Sport, und als sie an einem britischen Marineschiff vorbeikamen, das an einem der riesigen Liegeplätze vertäut war, kam das Thema auf den drohenden Krieg. Man hatte gehofft, dass Chamberlains Erklärung, Polen zu unterstützen, für einige Wochen Ruhe in die Danzig-Frage bringen und letztendlich vielleicht sogar zu einer friedlichen Einigung führen könne, doch Hitler hatte in Berchtesgaden gerade ein Treffen mit dem Anführer der Danziger Nazis beendet und ein Kriegsschiff in den Hafen der freien Hansestadt geschickt. Wenn Deutschland Anspruch auf Danzig erhob, würden England und Frankreich ihm den Krieg erklären. Unter der Woche hatten französische Flugzeuge einen Scheinangriff auf London geflogen, um die Bereitschaft der englischen Luftabwehr zu prüfen. Einige Londoner hatten gedacht, der Krieg sei bereits ausgebrochen, drei Menschen waren im Gedrängel vor einem Luftschutzbunker getötet worden.
»Was wird Amerika deiner Meinung nach tun?«, fragte Andras.
Paul zuckte mit den Schultern. »Roosevelt wird ein Ultimatum stellen, nehme ich an.«
»Hitler hat keine Angst vor Roosevelt. Denk daran, was letztes Jahr im April passiert ist.«
»Ich behaupte ja nicht, mich sonderlich damit auszukennen«, sagte Paul und hob die Hände, als wolle er sich ergeben. »Ich bin nur Maler. Ich lese nicht mal Zeitung.«
»Deine Verlobte ist Jüdin«, sagte Andras. »Ihre Familie lebt in Europa. Der Krieg wird sie betreffen, egal ob Amerika sich beteiligt oder nicht.«
Schweigend standen sie eine Weile da und schauten auf das Schiff mit seinem stacheligen Geschützpanzer. »Welche Militäreinheit würdest du wählen, wenn du kämpfen müsstest?«, fragte Paul.
»Auf jeden Fall nicht die Marine, so viel steht fest«, erwiderte Andras. »Es ist erst ein Jahr her, dass ich zum ersten Mal das Meer gesehen habe. Aber in den Schützengraben will ich auch nicht. Also nichts am Boden. Ich könnte lernen, Flugzeuge zu fliegen. Das würde mir gefallen.«
Paul grinste breit. »Mir auch«, sagte er. »Ich fand immer schon, dass es toll wäre, fliegen zu können.«
»Aber ich möchte niemanden töten müssen«, sagte Andras.
»Stimmt«, sagte Paul. »Das ist das Problem. Ich hätte allerdings nichts dagegen, ein Held zu sein. Es würde mir gefallen, ein paar Orden zu bekommen.«
»Mir auch«, bestätigte Andras. Es war ein gutes, wenn auch leicht peinliches Gefühl, das zuzugeben.
»Dann treffen wir uns in der Luft«, sagte Paul und lachte, aber es hatte etwas Gezwungenes, als seien ihm die Möglichkeit eines Krieges und seine eigene Teilnahme daran plötzlich bewusst geworden.
Sie erreichten die S. S. Île de France , die wuchtig über ihnen aufragte wie eine Gletscherkante. Der Rumpf glänzte vor frischer Farbe; jeder Buchstabe des Namens war so groß und breit wie ein Mensch. Das Wasser plätscherte um sie herum, und ein schwerer Gestank von totem Fisch, Öl und Tang stieg auf, dazu etwas Salziges und Kalkartiges, das der Geruch des Meeres selbst sein musste. Das Schiff erhob sich fünfzehn Stockwerke über der Wasserlinie; von ihrem Platz aus konnten Andras und Paul fünf Außendecks zählen. Überall wimmelte es nur so von Schauermännern, Matrosen, Zimmermädchen mit Armen voller Wäsche: Hunderte von Angestellten waren mit den letzten Vorbereitungen für eine ganze Kleinstadt von Menschen beschäftigt, die zu einer siebentägigen Seereise aufbrachen. Es würden fünfzehnhundert Passagiere an Bord sein, erklärte Paul; es gab fünf Ballsäle, ein Kino, einen Schießstand, eine große Sporthalle, ein überdachtes Schwimmbecken, hundert Rettungsboote. Das Schiff sei fast achthundert Fuß lang und würde vierundzwanzig Knoten laufen. Und an Bord sei eine Überraschung für Elisabet, ein letzter Luxus: Sie hatten eine Einzelkabine mit eigenem Balkon, und Paul hatte organisiert, dass drei Dutzend weiße
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