Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
da?«, fragte Andras.
Sie sah ihn an, das schöne Gesicht vor Kummer aufgewühlt. »Ihr hinterherfahren«, sagte sie und drückte ihm einen Zettel in die Hand. In Elisabets runder, kindlicher Schrift stand darauf, sie müsse gehen, sie könne nicht länger warten, sie habe Angst, die Lage in Polen dränge Frankreich in den Krieg, bevor sie in See stechen könnten. Sie hätten Paris am Morgen mit dem Zug verlassen, würden am nächsten Tag mit der S. S. Île de France nach New York aufbrechen und vom Kapitän an Bord getraut werden. Elisabet entschuldigte sich – und hier waren die Buchstaben verwischt –, das Nächste, was Andras lesen konnte, war: ist vielleicht leichter für uns, wenn ich … dann wieder eine unlesbare Zeile. Werde schreiben, wenn ich angekommen bin, schloss die Nachricht. Danke für die Aussteuer und alles andere. Voller Liebe etc.
»Wann hast du das gefunden?«
»Heute Morgen. All ihre Sachen sind weg.«
»Und du willst versuchen, sie einzuholen?«
»Vielleicht erwische ich sie noch in Le Havre. Mit dem Auto kann ich heute Nachmittag da sein.«
Andras seufzte. Die Bindung zwischen Klara und Elisabet würde nur sehr schwer zu lösen sein; er konnte verstehen, warum Elisabet einen Vorsprung haben wollte. Doch er wurde wütend, wenn er sich vorstellte, wie Elisabet heimlich in der Nacht alles nach draußen befördert hatte, diese sorgfältig gepackten Kisten mit Bekleidung und Wäsche, die Klara für sie zusammengestellt hatte. »Hast du ein Auto gemietet?«, fragte er.
»Frau Apfel hat eines bestellt. Es müsste jeden Moment hier sein.«
»Klara …«
»Ja, ich weiß.« Sie setzte sich aufs Bett, den Staubmantel auf dem Schoß. »Sie ist erwachsen. Sie wird so oder so gehen. Ich muss akzeptieren, dass sie geht und tut, was sie will.«
»Willst du etwa versuchen, sie aufzuhalten? Meinst du, du kannst sie davon abhalten, an Bord zu gehen?«
»Nein«, sagte Klara und seufzte. »Aber da sie sich entschieden hat zu gehen, möchte ich mich gerne von ihr verabschieden. Ich würde meiner Tochter gerne auf Wiedersehen sagen.«
Das verstand er natürlich. Elisabets Unabhängigkeitskrieg war vorbei; was Klara jetzt wollte, waren persönliche Friedensverhandlungen, die nicht von zwei Seiten des Atlantiks geführt wurden. Wenn ihre Kapitulation noch einen Rest von Aufbegehren enthielt, verstand Andras auch das. Seit Jahren hatte sie diesen Kampf geführt, so einfach konnte sie diese Angewohnheit nicht aufgeben.
»Ich komme mit«, sagte er. »Wenn du das möchtest.«
»Ja, ich möchte, dass du mitkommst. Bitte.«
»Ach, Klara, ich muss dir noch etwas anderes sagen«, fiel ihm ein. »Tibor ist hier.«
»Tibor? Dein Bruder ist hier?«
»Ja. Er ist jetzt hier, in deinem Haus.«
»Du hast mir gar nicht erzählt, dass er zurückgeschrieben hat!«
»Ich habe den Brief ja auch erst eben gerade bekommen.«
»Ilana«, sagte Klara, und sie gingen den Flur hinunter, um ihr die Neuigkeit zu überbringen.
Doch Ilana und Tibor hatten sich bereits gefunden. Sie saßen nebeneinander auf dem Sofa im Vorderzimmer. Auf Ilanas Gesicht war ein Ausdruck ungläubiger Freude, auf seinem der von Erleichterung und Erschöpfung. Sie waren nicht unglücklich, als sie erfuhren, dass Andras und Klara nach Le Havre fahren wollten und sie sich den Tag über würden Gesellschaft leisten müssen.
»Aber ruft uns an, wenn ihr in Le Havre ankommt«, sagte Tibor. »Sagt Bescheid, wenn ihr sie gefunden habt.«
Von unten erscholl das zweifache Tuten einer Autohupe; die Vermietungsfirma hatte den Wagen gebracht, es war Zeit zum Aufbrechen. Frau Apfel reichte ihnen einen Korb mit Lebensmitteln, den sie für die Reise gepackt hatte. Minuten später waren sie unterwegs, fädelten sich durch die Straßen von Paris, Andras mit weißen Fingerknöcheln auf dem Beifahrersitz, Klara grimmig entschlossen hinter dem Lenkrad. Als sie auf die Landstraße gelangten, entspannte sich Klaras Stirn. Die Morgensonne überflutete die wogenden Lavendelfelder vor ihnen, der Benzingeruch bildete einen aufregenden Kontrast zu dieser Süße. Sie redeten nicht gegen die Geräusche von Wind und Motor an, doch als sie auf einen langen, geraden Straßenabschnitt kamen, nahm Klara Andras’ Hand.
Paul und Elisabets Pläne waren nicht geheim; sie waren in genau dem Hotel abgestiegen, das sie einen Monat zuvor ausgewählt hatten, als beschlossen wurde, dass sie von Le Havre aus in See stechen würden. Andras und Klara betraten den hellen, hohen
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