Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Beginn des Wintersemesters bin ich wieder da – das heißt natürlich, wenn es ein Wintersemester gibt, was zum Teil von den Launen eines gewissen Herrn in Berlin abhängt.«
Andras ließ sich in die Rückenlehne fallen und versuchte zu verarbeiten, was er gerade gehört hatte. Unter normalen Umständen wäre ihm der Vorwand willkommen gewesen, für ein paar Wochen nach Hause zu fahren; schließlich hatte er seine Eltern und Mátyás seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Aber er wollte heiraten; und zwar solange Tibor noch in Paris war. Andras musste seine Sachen in die Rue de Sévigné transportieren. Und dann gab es noch das Problem mit Hitler und Danzig. Es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um in einen Zug nach Budapest zu steigen, nicht die richtige Zeit, den halben Kontinent zu durchqueren, nicht die richtige Zeit, um sein Visum in Frage zu stellen. Wie sollte er sich eine Reise überhaupt leisten können? Die Kosten einer Hin- und Rückfahrkarte würden alles verschlingen, was er für Klaras Ring und die kommenden Studiengebühren zur Seite gelegt hatte. Er hatte nicht so viel gespart wie Tibor; Andras hatte vor dem Studium nicht sechs Jahre gearbeitet. Plötzlich wurde ihm übel; er musste die Fensterscheibe herunterrollen und das Gesicht in den Wind halten.
»Ich hätte dir schon früher Bescheid sagen sollen«, meinte József. »Wir hätten zusammen fahren können.«
»Es ist meine Schuld«, gab Andras zurück. »Ich habe nicht viel Wert darauf gelegt, dich zu treffen, nachdem ich mich sturzbetrunken in deinem Schlafzimmer verschanzt hatte.«
»Dafür brauchst du dich nicht zu schämen«, sagte József. »Nicht vor mir. Nicht aus so einem Grund.« Dann wandte er sich an Tibor. »Und du?«, fragte er. »Was macht das Medizinstudium? In der Schweiz war das, oder?«
»In Italien.«
»Natürlich. Du bist jetzt also fast Arzt.«
»So schnell geht das nicht.«
»Und was führt dich in die Stadt?«
»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte Tibor. »Die Kurzfassung lautet ungefähr so: Ich werbe um eine Frau, die vor Kurzem noch mit einem Freund von Andras verheiratet war. Ich bin froh, dass du losfährst, ehe du mich überreden kannst, die ganze Geschichte zu erzählen.«
József lachte. »Das ist großartig«, sagte er. »Ich hätte gerne genug Zeit für die lange Version.«
Sie erreichten den Bahnhof, und der Fahrer stieg aus, um die Koffer vom Dach zu holen. József öffnete seine Brieftasche und zählte das Geld ab; Andras und Tibor schlüpften hinter ihm heraus und halfen ihm, die Koffer ins Bahnhofsgebäude zu tragen.
»Du musst jetzt wohl los«, sagte Andras, als sie das Gepäck einem Träger übergeben hatten. »Sonst verpasst du deinen Zug.«
»Hör zu«, sagte József. »Wenn du doch nach Budapest kommst, besuch mich dort! Wir gehen etwas trinken. Ich stelle dir ein paar Mädchen vor.«
»Monsieur Hász, immer der Lebemann«, sagte Tibor.
»Versprich mir das!«, sagte József und zwinkerte Andras zu. Dann schlang er seine kastanienbraune Tasche über die Schulter und trottete in den überfüllten Bahnhof.
Noch bevor eine weitere Woche vergangen war, würde Andras mit seinen eigenen Koffern und seiner eigenen Tasche zum Gare de l’Est gehen. Als er sich am Abend mit Tibor auf den langen Rückweg zur Rue de Sévigné machte, war ihm jedoch nur klar, dass er im Konsulat vorstellig werden und dort beantragen musste, dass ihm eine provisorische Aufenthaltsgenehmigung gewährt würde. Nur bis zum Ende des Monats – nur so lange, wie es dauerte, eine Heiratserlaubnis zu bekommen und seine Braut zu ehelichen. Wenn sie erst einmal verheiratet wären, hätte er doch bestimmt Anrecht auf die französische Staatsbürgerschaft. Könnte er dann nicht kommen und gehen, wie er wollte?
Bei Klara brannten alle Lichter, die Frauen hatten sich ins Schlafzimmer zurückgezogen. Ilana kam heraus und sagte Andras, dass er nicht hineingehen dürfe; die Schneiderin sei da, hinter Klaras Tür gebe es geheime Vorbereitungen, die ihr Hochzeitskleid beträfen.
Andras ging mit Tibor ins Vorderzimmer und setzte sich aufs Sofa, wo Tibor seine eigenen Papiere aus der Hosentasche zog und das Visum prüfte.
»Meins ist noch bis nächstes Jahr Januar gültig«, sagte er. »Und ich bin im Ferienkurs eingeschrieben, auch wenn ich den Kurs nicht bestehen werde, weil ich ihn abgebrochen habe.«
»Hauptsache, du bist eingeschrieben. Das müsste in Ordnung sein.«
»Aber was ist mit dir? Was machst du
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