Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
abgelaufen. Sie hatte doch recht gehabt, als sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Wie sollte er sie angesichts der unsicheren Zukunft Europas überzeugen, dass ihre eigene weniger unsicher sei? Doch als sie die Wohnung erreichten, mussten sie feststellen, dass Klara und Ilana gemeinsam zu einer geheimnisvollen Mission aufgebrochen waren – wohin, wollte Frau Apfel nicht sagen. Es war vier Uhr; an einem normalen Tag hätte Klara unterrichtet. Doch auch die Ballettschule machte im August Pause. Wäre nicht Ilanas Scheidung und Elisabets Abreise gewesen, wären sie eventuell selbst fortgefahren, vielleicht wieder in das Ferienhaus bei Nizza. Jetzt waren sie zusammen in der Stadt, die Geschäfte und Restaurants um sie herum hatten geschlossen, alles döste in goldenem Dunst. Andras fragte sich, wohin Klara und Ilana heimlich gegangen sein mochten. Eine Viertelstunde später kehrten sie mit feuchtem Haar zurück, die Haut rosa und leuchtend, umgeben von einem Glühen; sie hatten das Türkische Bad im sechsten Arrondissement besucht. Andras konnte nicht anders, als Klara ins Schlafzimmer zu folgen und ihr zuzusehen, wie sie sich zum Essen umzog. Sie lächelte über die Schulter, als sie das Sommerkleid zu Boden sinken ließ; ihr Körper war kühl und blass, ihre Haut samtig wie ein Salbeiblatt. Es war ihm unmöglich, sich vorzustellen, dass er in einen Zug steigen würde, der ihn von ihr forttrug, und sei es nur für einen Tag.
»Klárika«, sagte er, und sie drehte sich zu ihm um. Ihr Haar war zu weichen Schlingen um Hals und Stirn getrocknet. Andras verspürte ein derart großes Verlangen nach ihr, dass er sie am liebsten gebissen hätte.
»Was ist?« Sie legte eine Hand auf die nackte Haut seines Arms.
»Es ist etwas passiert«, sagte er. »Ich muss nach Budapest fahren.«
Überrascht blinzelte sie ihn an. »Aber Andras – mein Gott –, ist jemand gestorben?«
»Nein, nein. Mein Visum ist ausgelaufen.«
»Kannst du nicht einfach zum Konsulat gehen?«
»Die Gesetze wurden geändert. Das habe ich von József erfahren. Er muss auch nach Hause – als ich ihn traf, war er gerade auf dem Weg zum Bahnhof. Ich bin jetzt illegal im Land, behauptet die Regierung. Ich muss sofort aufbrechen. Morgen früh geht ein Zug.«
Klara nahm einen weißen Seidenmantel und wickelte sich hinein, dann setzte sie sich auf den niedrigen Stuhl vor der Frisierkommode, das Gesicht bar jeder Farbe, jeden Lichts.
»Budapest«, sagte sie.
»Es ist nur für ein paar Tage.«
»Aber wenn du da Ärger bekommst? Was ist, wenn sie dein Visum nicht verlängern wollen? Was ist, wenn in der Zwischenzeit Krieg ausbricht?« Langsam, nachdenklich löste sie das grüne Band, das ihr Haar im Nacken zusammenhielt, und saß lange Zeit da, das Seidenbändchen in der Hand. Als sie wieder sprach, hatte ihre Stimme das bedachtsame Gleichgewicht verloren. »Wir wollten nächste Woche heiraten. Und jetzt fährst du nach Ungarn, das einzige Land, in das ich dich nicht begleiten kann.«
»Ich werde nur schnell hinfahren, meine Eltern besuchen und sofort wieder zurückkommen.«
»Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas passiert.«
»Glaubst du vielleicht, ich möchte ohne dich fahren?«, fragte er und zog sie auf die Füße. »Meinst du etwa, ich könnte die Vorstellung ertragen? Zwei Wochen ohne dich, während Europa am Rande eines Krieges steht? Glaubst du, das will ich?«
»Und wenn ich mitkomme?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir wissen beide, dass das nicht geht. Wir haben doch darüber gesprochen. Es ist zu gefährlich, besonders jetzt.«
»Ich hätte es nie in Erwägung gezogen, solange Elisabet bei mir war, aber jetzt muss ich nicht mehr ihretwillen auf mich aufpassen. Und, Andras – ich kann mir jetzt ansatzweise vorstellen, wie meine Mutter gelitten hat, als ich fliehen musste. Sie wird älter. Wer weiß, wann ich sie noch einmal sehen werde? Es ist über achtzehn Jahre her. Vielleicht lässt sich ein heimliches Treffen in Budapest arrangieren, dann erfährt es niemand. Wenn wir nur kurz dort bleiben, wären wir nicht in Gefahr – ich bin jetzt seit knapp zwei Jahrzehnten Claire Morgenstern. Ich habe einen französischen Reisepass. Warum sollte man den infrage stellen? Bitte, Andras! Lass mich mitkommen!«
»Das geht nicht«, sagte er. »Ich würde es mir nicht verzeihen, wenn du verhaftet würdest.«
»Wäre das schlimmer, als von dir ferngehalten zu werden?«
»Aber es sind doch nur zwei Wochen, Klara.«
»Zwei Wochen, in denen
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