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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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jetzt?«
    »Ich gehe zum Konsulat«, erklärte Andras. »Dann gehe ich zum Bürgermeisteramt. Ich setze alle Hebel in Bewegung. Ich brauche unbedingt gültige Papiere, sonst bekommen wir keine Heiratserlaubnis.«
    Aus dem Schlafzimmer erscholl ein Trio von Lachern, ein heiteres Crescendo. Tibor faltete seine Papiere wieder zusammen und legte sie auf den Tisch. »Was willst du ihr sagen?«
    »Vorerst noch nichts«, sagte Andras. »Ich will vermeiden, dass sie sich Sorgen macht.«
    »Wir gehen morgen zum Konsulat«, sagte Tibor. »Wenn du das Problem erklärst, machen sie vielleicht eine Ausnahme und verlängern dein Visum. Und wenn sie Ärger machen, dann pass mal auf!« Er hob die Fäuste, als wolle er zuschlagen. Doch seine Hände waren so zierlich wie die eines Pianisten, lang und schmal, seine Knöchel so glatt wie Flusskiesel.
    »Gott stehe uns bei«, sagte Andras und brachte ein Lächeln zustande.
    Das ungarische Konsulat lag nicht weit entfernt von der deutschen Botschaft, wo Ernst vom Rath auf seinen Mörder getroffen war. Auf den ersten Blick löste das Gebäude bei einem im Ausland lebenden Staatsbürger Sehnsucht nach der Heimat aus; die Fassade bestand aus Mosaiken, die ungarische Stadt- und Landszenen zeigten. Doch der Künstler schien eine unheimliche Neigung zum Hässlichen zu haben: Die von ihm geschaffenen Menschen litten offenbar an Blutarmut und Blähsucht, seine Landschaften waren gerade so stark perspektivisch verzerrt, dass sie beim Betrachter eine leichte Übelkeit auslösten. Andras hatte eh keinen Appetit aufs Frühstück gehabt; in der Nacht hatte er kaum geschlafen. Irgendwie hatte er den vergangenen Abend hinter sich gebracht, ohne die missliche Lage vor Klara zu erwähnen, auch wenn sie gespürt hatte, dass etwas nicht stimmte. Als Andras und Tibor nach dem Essen Anstalten machten, ins Quartier Latin aufzubrechen, hielt sie ihn im Korridor auf und fragte, ob er Zweifel wegen der Hochzeit hege.
    »Überhaupt nicht«, sagte er. »Ganz im Gegenteil: Ich kann es kaum erwarten.«
    »Ich auch nicht«, sagte sie und schlang im dunklen Flur die Arme um ihn. Andras hatte sie geküsst, doch in Gedanken war er woanders. Er dachte an das, was ihm seit der Taxifahrt am Nachmittag die größten Sorgen bereitete: weder die bevorstehenden Probleme im Konsulat noch die Frage, wie er sich eine Fahrkarte nach Hause leisten sollte, sondern die Tatsache, dass der junge Mann, der zum Bahnhof geeilt war, József Hász gewesen war, der bisher auf wunderbare Weise von den Schwierigkeiten des normalen Leben verschont geblieben war – József Hász, nach Budapest getrieben wegen eines Stempels in einem Dokument.
    Am nächsten Tag im Konsulat erklärte die rothaarige Matrone mit dem Hajduken-Akzent Andras, sein Visum sei abgelaufen, als sein Unterricht zu Sommerbeginn aufhörte, seit anderthalb Monaten halte er sich illegal in Frankreich auf; er müsse das Land auf der Stelle verlassen, wenn er nicht verhaftet werden wolle. Sie händigte ihm einen Formbrief mit der Erlaubnis aus, wieder nach Ungarn einzureisen. Der schien ihm überflüssig; schließlich war er ungarischer Staatsbürger. Doch er war zu aufgeregt, um lange darüber nachzudenken. Er musste wissen, was er zu tun hatte, sobald er in Budapest eingetroffen war, wie er so schnell wie möglich nach Paris zurückkehren konnte. Tibor, der ihn wie versprochen begleitet hatte, behielt die Hände in den Hosentaschen und stellte höfliche Fragen, während Andras am liebsten Forderungen erhoben, geschrien und Diskussionen angezettelt hätte. Durch Tibors freundliche Erkundigungen erfuhren sie, dass Andras in Budapest ein Visum für zwei weitere Jahre beantragen könnte, wenn er einen Brief von der Schule dabei hätte, in dem bestätigt würde, dass er ein eingeschriebener Student sei und sein Stipendium im Herbst verlängert werde. Jedes Mitglied des Lehrkörpers könne diesen Brief aufsetzen; er sei gültig, solange er auf dem Briefpapier der Schule erstellt sei und das offizielle Schulsiegel trage. Tibor bedankte sich überschwänglich, und die rothaarige Frau ging so weit zu sagen, sie bedaure die Unannehmlichkeiten. Doch ihre kleinen wässrigen Augen blieben ungerührt, als sie ein rotes ÉRVÉNYTELEN in Andras’ Visum stempelte. Ausgelaufen. Ungültig. Er musste das Land auf der Stelle verlassen. Es war sinnlos, zum Bürgermeisteramt zu gehen und eine Heiratsgenehmigung zu beantragen; man konnte ihn dort verhaften, wenn er seine abgelaufenen Papiere

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