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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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vorzeigte. Die Zugfahrkarte würde seine Ersparnisse auffressen, doch er hatte keine Wahl. Nach seiner Rückkehr würde er wieder von Neuem zu sparen beginnen.
    Zusammen mit Tibor ging er wegen des offiziellen Schreibens zur École Spéciale, doch als sie an der Eingangstür zogen, war sie versperrt. Natürlich: Die Schule war im August geschlossen. Alle waren in Urlaub, selbst die Büroangestellten; sie würden nicht vor Anfang September zurückkehren. Andras schleuderte einen ungarischen Fluch in den heißen, milchigen Himmel.
    »Woher bekommen wir einen Briefkopf?«, fragte Tibor. »Woher bekommen wir einen offiziellen Stempel?«
    Andras fluchte erneut, doch dann hatte er eine Idee. Wenn es etwas gab, das er in- und auswendig kannte, dann war es die Architektur der École Spéciale. Die Schule war eines der ersten Bauwerke, die sie im Atelier studiert hatten; sie hatten jeden Aspekt des Gebäudes erschöpfend inspiziert, vom Steinfundament der neoklassizistischen Eingangshalle bis zum pyramidenförmigen Glasdach des Amphitheaters. Andras kannte jede Tür, jedes Fenster, selbst die Kohlerutschen und das Rohrpostnetz, über das das Verwaltungsbüro Nachrichten in die Zimmer der Professoren schicken konnte. Beispielsweise wusste Andras, dass man, wenn man sich der Schule rückseitig über den Cimetière de Montparnasse näherte, hinter einer Efeukaskade eine Tür fand – eine so gut versteckte Tür, dass sie nie abgeschlossen wurde. Sie führte auf den Innenhof, und von dort konnte man über Fenster, die an lockeren Angeln weit aufschwangen, ins Sekretariat einsteigen. Und über diesen Weg gelangten Andras und Tibor tatsächlich ins ausgestorbene Heiligtum der Schule. Rasch entdeckten sie einen Vorrat an Briefpapier und Umschlägen, und Tibor fand den offiziellen Stempel in der Schreibtischschublade einer Sekretärin. Weder er noch Andras konnten mit einer Schreibmaschine umgehen; sie brauchten acht Versuche, bis sie einen ordentlichen Brief in den Händen hielten, der bestätigte, dass Andras eingeschriebener Student an der École Spéciale sei und auch im Herbstsemester ein Privatstipendium erhalten würde. Pierre Vago trugen sie als Verfasser des Briefes ein, und Tibor fälschte Vagos Unterschrift mit einem so großartigen Schnörkel, dass Vago selbst ihn darum beneidet hätte. Dann zierten sie den Brief mit dem offiziellen Siegel der Schule.
    Bevor sie gingen, zeigte Andras seinem Bruder die Plakette mit der Inschrift, die ihn als Gewinner des Prix du Amphithéâtre auswies. Lange Zeit stand Tibor davor und betrachtete sie, die Arme vor der Brust verschränkt. Schließlich ging er zurück ins Büro und holte zwei leere Blätter mit Briefkopf und einen Bleistift. Er legte das Papier auf die Gedenktafel und pauste sie zweimal ab.
    »Einmal für unsere Eltern«, erklärte er. »Und einmal für mich.«
    Sie mussten zum Telegrafenamt gehen, um Mátyás mitzuteilen, dass Andras kommen würde. Seine Eltern wollte er erst in Budapest benachrichtigen; ein Telegramm würde sie nur in Aufregung versetzen und ein Brief vermutlich erst ankommen, wenn er schon wieder zurück in Paris wäre. Im Amt beugten sich besorgte Männer und Frauen an den Schreibtresen über Karten, erschufen unfreiwillig elegante Haikus über Geburt und Liebe, Geld und Tod. Halb fertige Nachrichten flogen auf dem Boden herum: MAMAN , HABE ERHALTEN … MATHILDE : BEDAURE MITTEILEN ZU MÜSSEN … Während Tibor den Zugfahrplan studierte, der im Telegrafenamt auslag, ging Andras zum Schalter, um sich ein Kärtchen und einen Stift zu holen. Der Beamte mit der grüne Schirmmütze verwies ihn an eines der Schreibpulte. Andras ging zum angewiesenen Platz und wartete auf seinen Bruder, der ihm mitteilte, dass der Donau-Express am nächsten Morgen um 7. 33 Uhr abfuhr und 26 Stunden später in Budapest eintreffen würde.
    »Was sollen wir schreiben?«, fragte Andras. »Es gibt so viel zu sagen.«
    »Wie wäre es hiermit«, schlug Tibor vor und leckte an der Bleistiftspitze. »KOMME nach BUDAPEST DONNERSTAGMORGEN . BITTE BADEN . GRUSS ANDRAS .«
    »Bitte baden?«
    »Du wirst wohl mit ihm in einem Bett schlafen müssen.«
    »Gute Idee. Ein Glück, dass du hier bist.«
    Sie bezahlten, und das Telegramm kam in die Warteschlange. Jetzt musste Andras nur noch in die Rue de Sévigné gehen und Klara von seinem Vorhaben erzählen. Er hatte Angst vor dem Gespräch, von der Nachricht, die er überbringen musste: Ihre Hochzeitspläne waren durchkreuzt, sein Visum war

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