Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
den ihrer Mutter berührte. Andras wandte den Blick ab und gab Paul die Hand.
»See you in the funny papers«, sagte Paul. »So sagt man in den Staaten.« Er übersetzte für Andras: »Je te verrai dans les bandes dessinées.«
»Auf Französisch klingt es besser«, meinte Andras, und Paul musste ihm beipflichten.
Wieder erscholl das Horn des Schiffes. Klara gab Elisabet einen letzten Kuss, Paul und Elisabet erklommen die Landungsbrücke und verschwanden in der Menschenmenge. Klara hielt Andras’ Arm, schweigend, bis Elisabet wieder an der Reling des Schiffes erschien. Schon Stunden, bevor das Schiff seinen Liegeplatz verließ, war Elisabet so weit weg, dass sie nur durch das an ihrer Hutkrempe flatternde rote Band und den violetten Punkt zu erkennen war, der Blumenkegel in ihrer Hand. Der dunkelblaue Fleck neben ihr war Paul in seinem nautisch anmutenden Jackett. Klara nahm Andras’ Hand und umklammerte sie. Ihr schmales Gesicht war blass unter der dunklen Welle ihres Haars; in der Hektik am Morgen hatte sie vergessen, einen Hut mitzunehmen. Sie winkte Elisabet mit ihrem Taschentuch zu, und die winkte mit ihrem zurück.
Drei Stunden später sahen sie zu, wie die Île de France hinausglitt, der flachen blauen Ferne des offenen Meeres und des Himmels entgegen. Wie verblüffend, dachte Andras, dass ein Schiff von diesem Ausmaß auf die Größe eines Hauses, dann eines Autos schrumpfen konnte, schließlich auf die Größe eines Tischs, eines Buchs, eines Schuhs, einer Walnuss, eines Reiskorns, eines Sandkorns. Wie verblüffend, dass das Größte, was er je gesehen hatte, der verkleinernden Wirkung der Entfernung nichts entgegenzusetzen hatte. Das machte ihm seine eigene Geringfügigkeit in der Welt bewusst, seine Bedeutungslosigkeit angesichts dessen, was kommen mochte, und einen Augenblick lang war seine Brust flattrig vor Angst.
»Bist du krank?«, fragte Klara und legte ihm eine Hand auf die Wange. »Was ist?«
Doch es war ihm unmöglich, seine Gefühle in Worte zu fassen. Kurz darauf war der Moment vorbei, und dann war es Zeit für sie, zum Wagen zu gehen und nach Hause zu fahren.
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25.
Das ungarische Konsulat
WÄHREND ANDRAS UND KLARA in Le Havre gewesen waren, hatten Tibor und Ilana die Zeit gemeinsam im Haus an der Rue de Sévigné verbracht. Tibor berichtete Andras, was geschehen war, als sie am nächsten Tag am Ufer der Seine entlanggingen und zusahen, wie die langen flachen Flussboote unter den Brücken hindurchfuhren. Ab und an erhaschten sie eine Zigeunermelodie, die Andras das Gefühl gab, zurück in Budapest zu sein, als müsse er nur hochschauen und würde die goldüberzogene Kuppel des Parlaments am rechten und den Burgberg am linken Ufer erblicken. Der Tag war schwül und roch nach feuchtem Pflaster und dem Flusswasser; im schräg fallenden Licht wirkte Tibor ausgezehrt vor Glück. Er erzählte Andras, dass Ilana schon im Zug bewusst gewesen war, einen Fehler zu machen, doch sie sich nicht in der Lage fühlte aufzuhalten, was bereits in Gang gesetzt worden war. Schuldgefühle allerorten, ein endloses Karussell von Schuldgefühlen: ihre eigenen, die von Ben Yakov, die von Tibor. Jeder hatte dem anderen etwas vorgemacht, jedem war von den anderen etwas vorgemacht worden; es war ein Wunder, dass sie aus diesem qualvollen Strudel unbeschadet an Leib und Leben hervorgegangen waren. Doch Tibors Rettung war die räumliche Distanz gewesen, Ilana war von Klara umsorgt worden, als sei sie ihre eigene Tochter, und Ben Yakov hatte nachts in seinem Zimmer mit Andras gesprochen.
»Sie wird mit mir nach Italien zurückkommen«, erklärte Tibor. »Ich bringe sie heim nach Florenz und bleibe den Rest des Sommers dort. Ich würde sie noch heute bitten, meine Frau zu werden, aber es ist mir lieber, wenn ihre Eltern in mir nicht den Feind sehen. Ich hätte gerne ihre Erlaubnis.«
»Das ist mutig von dir. Und wenn sie sie dir verweigern?«
»Ich muss es versuchen. Man weiß ja nie. Vielleicht mögen sie mich ja.«
Sie hatten die Île de la Cité und den Petit Pont ins Quartier Latin überquert, wo sie sich plötzlich auf der Rue Saint-Jacques wiederfanden. Das Haus, in dem József wohnte, lag genau vor ihnen; am Abend nach dem Jom-Kippur-Fasten war Andras zuletzt dort gewesen. Seither hatte er József zwar einige Male auf der Straße getroffen, doch die Schwelle dieses Gebäudes seit Monaten nicht mehr überschritten; der Zeitpunkt rückte immer näher, da Klara und er in Erwägung ziehen
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