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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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mussten, József in ihr Geheimnis einzuweihen. Als die Brüder nun vor dem Haus standen, merkte Andras, dass die Eingangstür von zwei glänzenden, mit Aufklebern übersäten ledernen Reisekoffern aufgehalten wurde, die an der Seite deutlich sichtbar Józsefs Namen und Adresse trugen. Kurz darauf tauchte József selbst in einem leichten Reiseanzug auf.
    »Lévi!«, sagte er. Er ließ seinen Blick über Andras wandern, der sich auf eine nachdenkliche, brüderliche Weise taxiert fühlte. »Ich muss sagen, alter Junge, du siehst gut aus. Und da ist ja auch der andere Lévi, der zukünftige Arzt, wenn ich mich nicht irre. Wie schade, dass ihr mich gerade im Aufbruch erwischt. Wir hätten etwas zusammen trinken können. Andererseits: wie praktisch für mich! Ihr könnt mir helfen, ein Taxi zu besorgen.«
    »Geht’s in den Urlaub?«, fragte Tibor.
    »Eigentlich ja«, sagte József, und ein ungewohnter Ausdruck huschte über sein Gesicht – ein Blick, den Andras nur als Gekränktsein beschreiben konnte. »Ich wollte mich eigentlich mit Freunden in Saint-Tropez treffen. Stattdessen breche ich auf ins schöne Budapest.«
    »Warum?«, fragte Andras. »Was ist passiert?«
    József winkte ein vorbeifahrendes Taxi heran. Es hielt am Straßenrand, und der Fahrer stieg aus, um Józsefs Gepäck einzuladen. »Hört mal«, sagte József. »Warum fahrt ihr beiden nicht mit zum Bahnhof? Ich muss zum Gare de l’Est, das dauert bei diesem Verkehr bestimmt eine halbe Stunde. Es sei denn, ihr habt etwas Besseres vor.«
    »Etwas Besseres als eine lange Fahrt in einem heißen Taxi?«, sagte Andras. »Kann ich mir nicht vorstellen.«
    Sie stiegen ein und fuhren die Rue Saint-Jacques in die Richtung hinunter, aus der sie gekommen waren. József legte seinen langen Arm über die Rücklehne seines Sitzes und drehte sich zu Andras um.
    »Also, Lévi«, sagte er. »Es ist eine nervenaufreibende Geschichte, aber ich denke, ich sollte sie dir erzählen.«
    »Was denn?«, fragte Andras.
    »Hast du dein Studentenvisum verlängern lassen?«
    »Noch nicht. Wieso?«
    »Wunder dich nicht, wenn du im ungarischen Konsulat Probleme bekommst.«
    Andras schaute József blinzelnd an; das schräge Nachmittagslicht fiel durch die Scheibe des Taxis und beleuchtete, was er zuvor nicht gesehen hatte: den Schatten von Sorge um Józsefs Augen, die Spuren fehlenden Schlafs. »Was für Probleme?«, fragte er.
    »Ich wollte mein Visum verlängern lassen. Ich dachte, ich hätte noch ein paar Wochen Zeit. Ging nicht davon aus, dass es irgendwelche Schwierigkeiten geben würde. Aber dann sagte man mir, das sei nicht möglich, nicht hier in Frankreich.«
    »Aber das ist doch widersinnig«, sagte Tibor. »Dafür ist das Konsulat schließlich da.«
    »Offensichtlich nicht mehr.«
    »Wenn das Visum nicht in Frankreich verlängert werden kann, wo soll man es dann machen lassen?«
    »Zu Hause«, entgegnete József. »Deshalb fahre ich ja hin.«
    »Könntest du das nicht von deinem Vater erledigen lassen?«, fragte Andras. »Könnte er nicht seinen Einfluss geltend machen? Oder, wenn ich so unhöflich sein darf: Kann er nicht einfach jemanden bestechen?«
    »Sollte man meinen«, sagte József. »Aber das geht anscheinend nicht. Mein Vater hat nicht mehr so viel Einfluss wie früher. Er ist nicht mehr Direktor der Bank. Er hat zwar noch dasselbe Büro, aber einen anderen Titel. Berater oder so was Ähnliches.«
    »Hat es damit zu tun, dass er Jude ist?«
    »Natürlich. Womit denn sonst?«
    »Und ich nehme an, nur Juden müssen nach Ungarn fahren, um ihr Visum verlängern zu lassen?«
    »Wundert dich das, alter Junge?«
    Andras zog seine Papiere aus der Jackentasche. »Mein Visum ist noch drei Wochen gültig.«
    »Das hatte ich auch gedacht. Aber es ist nur gültig, wenn du Ferienkurse besuchst. Das nächste Semester zählt offensichtlich nicht mehr. Du solltest besser zum Konsulat gehen, bevor jemand deine Papiere sehen will! Nach Auffassung der Behörden bist du jetzt illegal im Land.«
    »Aber das ergibt doch keinen Sinn!«
    József zuckte mit den Schultern. »Da kann ich dir leider nur zustimmen.«
    »Ich kann jetzt nicht nach Budapest fahren«, sagte Andras.
    »Ehrlich gesagt, freue ich mich inzwischen fast darauf«, sagte József. »Ich werde mich im Széchenyi-Bad entspannen, im Gerbeaud einen Kaffee trinken, ein paar Jungs von der Schule treffen. Vielleicht fahre ich für eine Weile in das Haus am Plattensee. Dann erledige ich das, was ich auf dem Amt zu tun habe, und zu

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