Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
Vom Netzwerk:
Sommermonate mit ihrem Versprechen heißer Tage inmitten von Asphalt und Teer tauchten am Horizont auf. Es schien, als würde sich nie etwas ändern. Dann kam im Juni ein weiteres Päckchen mit Briefen von Klara und darin Neuigkeiten von Tibor und aus Frankreich.
    Tibor und Ilana hatten nach einer langen Verlobungszeit und einer Versöhnungsphase mit ihren Eltern im Mai geheiratet. Ein gewisser Rabbi di Samuele hatte Fürsprache für das Paar eingelegt. Er hatte sich als so guter Vermittler erwiesen, dass Ilanas Eltern Tibor schließlich zum Schabbesessen eingeladen hatten. Dennoch , schrieb Tibor , befürchtete ich, ihr Vater würde mir ein blaues Auge verpassen. Verstehst Du, für ihn war ich der Schurke, nicht Ben Yakov; ich war derjenige, der seine Tochter im Zug begleitet hatte. Wann immer ich eine Bemerkung zu einer biblischen Interpretationsfrage wagte, lachte ihr Vater mich aus, als ergötze er sich an meiner Ahnungslosigkeit. Ilanas Mutter reichte das Essen absichtlich nicht an mich weiter. Mitten in der Mahlzeit griff beherzt der Ewige selbst ein: Ilanas Vater fiel vom Stuhl, ein Herzinfarkt. Er wäre fast gestorben. Ich hielt ihn mit Herzdruckmassage am Leben, bis ein richtiger Arzt gerufen wurde. Er überlebte; ich war der Held des Abends; Signor und Signora di Sabato änderten ihre Meinung. Keinen Monat später waren Ilana und ich verheiratet. Als mein Visum ablief, kehrten wir nach Ungarn zurück, seitdem wohnen wir hier in Budapest, nicht weit entfernt von Deiner wunderbaren Frau, tun unser Bestes, ihr Gesellschaft zu leisten und meine Papiere für die Rückkehr nach Italien zusammenzubekommen. Ich habe meine Ilana Anya und Apa vorgestellt; sie mochten sich alle, und unser Vater war am Ende des Abends beschwipst und ermutigte uns, Enkelkinder zu machen. Was unseren jüngeren Bruder angeht, der schlägt weiterhin über die Stränge. In diesem Monat hat er sein Debüt im Ananas-Club, wo die Leute gutes Geld dafür bezahlen, ihn auf einem weißen Flügel tanzen zu sehen. Irgendwie hat er es doch noch geschafft, sein Abitur zu machen. Er dekoriert immer noch Schaufenster und hat mehr Kunden, als er bedienen kann. Seine Freundin hat ihn allerdings wegen eines Gauners verlassen. Er lässt Dich grüßen und schickt Dir die beigelegte Aufnahme. Das Bild zeigte Mátyás mit Hut, weißer Krawatte und Frack, einen Stock in der Hand, einen Fuß über den anderen gestellt, sodass man den Metallbeschlag unter der Sohle blitzen sah.
    Meine Gedanken sind immer bei Dir , schrieb Tibor. Ich hoffe, Du wirst keine Verwendung für die Arzneimittel haben, die ich Dir mit diesem Brief schicke, doch nur für den Fall habe ich versucht, eine kleine Feldapotheke für Dich zusammenzustellen. Bis dahin bleibe ich in ständiger Sorge um Deine Sicherheit und voller Glauben an Deine Stärke Dein Dich liebender Bruder Tibor .
    Der nächste Brief war von Mátyás, datiert vom 29. Mai, ein zorniges Gekritzel. Ich bin einberufen worden , teilte er Andras mit. Diese miesen Schweine! Sie können mich nicht zwingen, für sie zu arbeiten. Horthy sagt, er würde die Juden schützen. Dieser Lügner! Mein Schulfreund Gyula Kohn ist letzten Monat beim Arbeitsdienst gestorben. Er hatte ein Stechen in der Seite und Fieber, aber er wurde trotzdem zur Arbeit geschickt. Er hatte eine Blinddarmentzündung. Drei Tage später starb er. Er war so alt wie ich, neunzehn.
    Der letzte Brief war von Klara selbst, er enthielt Zeitungsausschnitte von der deutschen 18. Armee, die durch die Straßen von Paris marschierte, und ein Bild von einer riesengroßen Hakenkreuzflagge am Hôtel de Ville. Andras setzte sich auf sein Feldbett und betrachtete die Aufnahme. Er dachte an seine kurze Reise durch Deutschland – sie schien ein ganzes Erdzeitalter zurückzuliegen –, an seinen Aufenthalt in Stuttgart, wo er versucht hatte, Brot in einer Bäckerei zu kaufen, die keine Juden bediente. Dort hatte er die rote Flagge an der Bahnhofsfassade hängen sehen, ein Trompetenstoß nationalsozialistischen Eifers, fünf Stockwerke hoch. Er weigerte sich zu glauben, was im beigelegten Artikel stand: dass diese Fahne nun an jedem offiziellen Gebäude in Paris wehte, dass Paul Reynaud, der Nachfolger von Daladier, zurückgetreten war, dass der neue Premier, Philippe Pétain, erklärt hatte, Frankreich würde zusammen mit Hitler an einem neuen Europa arbeiten. Selbst Liberté, Égalité, Fraternité war von einem neuen Schlachtruf ersetzt worden: Travail, Famille, Patrie . Es

Weitere Kostenlose Bücher