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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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werfen. Ich bleibe lieber am Leben und arbeite. Shalhevet meint, wir könnten eine Wohltätigkeitsorganisation gründen, um Juden aus Europa zu retten. Reiche Amis suchen, die das Geld geben. Sie ist ein kluges Mädchen. Vielleicht schafft sie es wirklich. Wenn alles gut geht, brechen wir im Mai auf. Von jetzt an werde ich Dir nur noch auf Hebräisch schreiben.
    Ben Yakov, ausgelaugt von den Ereignissen des vergangenen Jahres, hatte sich von der Schule beurlauben lassen und sich ins Haus seiner Eltern nach Rouen zurückgezogen. Diese Nachricht kam nicht von ihm selbst, sondern von Rosen, der prophezeite, dass Ben Yakov wohl bald Andras schreiben würde. Und tatsächlich, im selben Päckchen war ein Telegramm, das an Klaras Adresse in Budapest geschickt worden war: ANDRAS , WIR SIND NICHT NACHTRAGEND . TROTZ ALLEM IMMER DEIN FREUND . GOTT SCHÜTZE DICH . BEN YAKOV .
    Klara selbst schrieb wöchentlich. Ihr war ohne Probleme eine Aufenthaltsgenehmigung ausgestellt worden; soweit es die Regierung betraf, war sie Claire Lévi, die französischstämmige Frau eines ungarischen Arbeitsmannes. Sie hatte ihre Wohnung auf der Rue de Sévigné an einen polnischen Komponisten vermietet, der nach Paris geflohen war; der Komponist kannte eine Ballettlehrerin, die froh wäre, ein neues Studio zu haben, und so konnte der Übungsraum auch vermietet werden. Klara lebte jetzt in einer Wohnung auf der Király utca und hatte ein Studio für sich gefunden, so wie sie gehofft hatte. Sie hatte ein paar Privatschüler angenommen und würde bald beginnen, kleine Klassen zu unterrichten. Sie führte ein Leben in ruhiger Abgeschiedenheit, besuchte täglich ihre Mutter und ging sonntags nachmittags mit ihrem Bruder im Park spazieren; zusammen hatten sie das Grab ihres Lehrers Viktor Romankow besucht, der nach zwanzig Jahren Lehrtätigkeit an der Königlichen Ballettschule an einem Schlaganfall gestorben war. Budapest sei voller Erinnerungen, schrieb Klara. Manchmal vergesse sie völlig, dass sie eine erwachsene Frau sei; dann ginge sie auf das Haus auf der Benczúr utca zu und rechne damit, ihren Vater noch lebend vorzufinden, ihren Bruder als hochgewachsenen jungen Schüler und ihr Mädchenzimmer unverändert. Manchmal sei sie melancholisch, und am meisten fehle ihr Andras. Doch er solle sich nicht um sie sorgen. Es ginge ihr gut. Alles wirke sicher.
    Natürlich machte er sich trotzdem Sorgen, aber es war tröstlich, von ihr zu hören – zumindest zu lesen, dass sie sich sicher fühlte, wenigstens sicher genug, um ihm das zu schreiben. Ihren jeweils letzten Brief trug er immer in der Manteltasche mit sich herum. Wenn ein neuer kam, legte er den alten in sein Holzkästchen zu dem Stapel, den er dort mit Klaras grünem Haarband zusammenhielt. Ihr Hochzeitsfoto bewahrte er in einer marmorierten Mappe von Pomeranz und Söhne auf. Er zählte die Tage bis zu seinem Heimaturlaub, er zählte und zählte durch den, wie ihm schien, längsten Winter seines Lebens.
    Im Frühling war der Wald von der Morgen- bis zur Abenddämmerung erfüllt vom Geruch schwarzer Erde und von kakofonischem Vogelgesang. Plötzlich hingen neue Vorhänge in den Fenstern der leeren Häuser entlang dem Weg zur Einsatzstelle im Wald. Auf den Feldern waren Kinder, auf den Straßen Radfahrer, aus den Gasthöfen zog der Duft gegrillter Würstchen. Der versprochene Heimaturlaub war bis zum Ende des Sommers aufgeschoben worden; es sei zu viel zu tun, verkündete ihnen der Kommandeur, um auch nur einem aus der Kompanie eine Pause zu gönnen. Gott sei Dank ist der Winter vorbei , schrieb Andras’ Mutter. Jeden Tag habe ich mich gesorgt. Mein Andráska in diesen Bergen, in dieser furchtbaren Kälte. Ich weiß, dass Du stark bist, aber eine Mutter denkt immer das Schlimmste. Jetzt kann ich mir etwas Besseres vorstellen: Dir ist warm, Deine Arbeit ist leichter, und es dauert nicht mehr lange, dann bist Du zu Hause. In dem kleinen Rund von Vorbergen, wo Andras und seine Kollegen endlose Monate geschuftet hatten, versammelten sich nun Ungarn an der frischen Luft, um Beeren mit Schlagsahne zu essen oder in den eiskalten Seen zu schwimmen. Doch für die Zwangsverpflichteten ging die Arbeit weiter. Da der Boden nun aufgetaut und weich war und die Bäume entlang dem vorgesehenen Straßenverlauf gerodet worden waren, musste die Arbeitskompanie 112/30 die gewaltigen Stümpfe aus der Erde reißen, damit das Straßenbett geebnet und der Schotter für die Straße verteilt werden konnte. Die

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